In seiner mehr als vierzehnjährigen Regentschaft als Ministerpräsident Ungarns – Kabinette Orbán I (1998 – 2002), Orbán II (2010 – 2014) und Orbán III (2014 ff.) – hat Viktor Orbán eine Fülle systematischer Verstöße gegen die Werteplattform des Art. 2 EUV sowie auch gegen die Europäische Grundrechtecharta begangen.
1. Einführung
Dabei handelte es ganz eindeutig um gezielte Aktivitäten zur Herbeiführung des von Orbán proklamierten „illiberal state“, die schon längst zur Einleitung des „Verfahrens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ (sog. „Vor Art. 7 EUV“-Verfahren) bzw. sogar zur Aktivierung des „Frühwarnsystems“ des Sanktionsverfahrens des Art. 7 Abs. 1 EUV [1] selbst gegen Ungarn hätten führen müssen. Dass es Viktor Orbán aber immer wieder gelungen ist, die Europäische Kommission davon zu überzeugen, gegen Ungarn, wenn überhaupt, lediglich Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV, aber keine Sanktionsverfahren einzuleiten, ist ein bemerkenswerter Umstand.
Mit der erstmaligen Einleitung des „Vor Art. 7 EUV“-Verfahrens gegen Polen Mitte Jänner 2016 wegen „systemischer Verletzungen“ des Rechtsstaatsprinzips [2] haben sich aber die Rahmenbedingungen dahingehend geändert, dass man sich nunmehr fragen muss, warum die Kommission zögert, dieses „Vor Art. 7 EUV“-Verfahren auch gegen Ungarn einzuleiten, das offensichtlich schon seit Längerem mindestens gleich schwere Verfehlungen systematisch begeht. Die Erklärung dafür geht aus der Aussage des ersten Vizepräsidenten der Kommission, Frans Timmermans, der das „Vor Art. 7 EUV“-Verfahren gegen Polen geleitet hat, klar hervor, der zwar anmerkte, „dass zusammengenommen, die Gesamtsituation in Ungarn Anlass zur Sorge gibt“, [3] zugleich aber feststellte, dass „es in Ungarn keine systematische Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit gibt – anders als in Polen.“[4]
Diese Aussage traf Timmermans in voller Kenntnis der neuerlichen Aktivitäten der ungarischen Regierung im März/April 2017, die sowohl gegen die von Georg Soros, einem „Auslandsungarn“, im Jahr 1991 gegründete Central European University (CEU) [5], als auch gegen die von diesem – über dessen „Open Society Foundations“ (OSF) – finanziell unterstützten und in Ungarn tätigen Nichtregierungsorganisationen (NROs/NGOs) [6] gerichtet waren. [7]
Die von der ungarischen Regierung Anfang April 2017 eingeleitete Befragung aller Ungarn per Brief von Premierminister Viktor Orbán über einen „Stoppt Brüssel!“-Kurs, die mit sechs Suggestivfragen die Einleitung einer eindeutigen Anti-EU-Kampagne bezweckte, stellt diesbezüglich nur mehr den „Tupfen auf dem i“ dar.
Wie sehr es sich bei der vorstehenden Äußerung um eine mehr als „diplomatische“ Formulierung Timmermans handelt und welche Überlegungen dieser realitätsfernen Bemerkung tatsächlich zugrunde liegen, soll nachstehend untersucht werden. Zunächst muss daher ein Blick auf die bisherigen Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips während der drei Regierungsperioden Viktor Orbáns geworfen und danach müssen diese mit der einschlägigen Situation in Polen kontrastiert werden, um anschließend festzustellen, ob, und wenn ja, warum die Kommission hierbei mit „zweierlei Maß misst“.
2. Bisherige Verletzungen des Rechtstaatlichkeitsprinzips durch Ungarn
1.1. Das ungarische „Statusgesetz“ (2001) und Staatsbürgerschaftsgesetz (2010)
Alles begann zunächst mit einem rechtsstaatlich noch unbedenklichen, dafür aber bereits extrem nationalistischen und populistischen Vorstoß der Regierung Orbán I, als nämlich das ungarische Parlament am 19. Juni 2001 mit überwältigender Mehrheit – 306 Pro- und lediglich 17 Kontra-Stimmen, bei 8 Enthaltungen – das „Gesetz über die magyarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten“ (sog. „Statusgesetz“) [8] verabschiedete, das für „Auslandsungarn“ mit Wohnsitz in Kroatien, der Bundesrepublik Jugoslawien, Rumänien, Slowenien, der Slowakei und der Ukraine – nicht aber in Österreich – eine Reihe von Begünstigungen vorsah, die sowohl (extraterritorial) in deren Heimatstaaten, als auch in Ungarn selbst den mit einem „Ungarnausweis“ ausgestatteten Auslandsungarn gewährt werden.
Bereits wenige Monate nach dem Inkrafttreten des „Statusgesetzes“ am 1. Jänner 2002 hatten 400.000 der 3,2 Mio. Auslandsungarn einen „Ungarnausweis“ beantragt, mehr als die Hälfte davon allein in Rumänien. Sowohl völkerrechtlich, als auch europarechtlich – seit dem Beitritt Ungarns zur EU mit Wirkung vom 1. Mai 2004 – begegnete diese Ausweitung einer (vermeintlichen) Schutzmachtfunktion Ungarns für seine seit dem Vertrag von Trianon (1920) in der Diaspora lebenden „Auslandsungarn“ massiven Bedenken. [9] Eine solche Schutzmachtfunktion gegenüber dritten Staaten kann sich nämlich ein Staat („kin-state“) nicht selbst anmaßen, sondern diese bedarf einer völkerrechtlichen Begründung, sei es durch Beschluss einer internationalen Organisation (UNO), sei es durch eine bilaterale Übereinkunft mit dem Staat, in dem die entsprechende Minderheit lebt.
In der Slowakei produzierten die Nachwehen des ungarischen „Statusgesetzes“ einen völkerrechtlich interessanten diplomatischen Streitfall, erklärte doch die slowakische Regierung unter Ministerpräsident Robert Fico am 21. August 2009 mittels diplomatischen Note den ungarischen Staatspräsidenten Laszlo Solyom zur „persona non grata“ und verbot ihm die Einreise in die Slowakei, um in der Grenzstadt Komarno eine Statue des ungarischen Nationalhelden Stephan I. (1000-1038) zu enthüllen, selbst dann noch, als Solyom diese Reise als bloße „Privatreise“ deklarierte.
Solyom hatte aber bereits im März 2009 Probleme bei der Einreise in ein Nachbarland mit einer großen ungarischen Minderheit gehabt, als er nämlich im rumänischen Tirgu Mures (Marosvasarhely) an einer Feier zum ungarischen Freiheitskampf 1948/49 teilnehmen wollte. Rumänien verweigerte der Präsidentenmaschine die Landeserlaubnis, worauf Solyom einfach mit dem Auto zur Feier anreiste und daran nicht gehindert wurde.
Im Dezember 2001 und im Jänner 2002 kam es zu ersten legistischen Anpassungen am Statusgesetz und im Jänner 2003 legte die neue sozialistische Regierung Medgyessy eine grundlegend abgeänderte Version des Statusgesetzes vor, die im Juni 2003 vom ungarischen Parlament neuerlich modifiziert wurde. Am 5. Dezember 2004 kam es zur Abhaltung einer Volksabstimmung über die Frage, ob nicht alle im Ausland lebenden Ungarn künftig automatisch eingebürgert werden sollen. Das Referendum erhielt zwar 53% Pro-Stimmen aller abgegebenen Stimmen, scheiterte aber an der zu geringen Wahlbeteiligung von nur 37,5%.
Die Regierung Orbán II legte nach dem „Statusgesetz“ aber noch nach und leitete dem ungarischen Parlament die Vorlage eines neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes zu, das von diesem am 26. Mai 2010 neuerdings mit überwältigender Mehrheit – 97,7 % der an der Abstimmung teilnehmenden 344 Abgeordneten stimmten mit Ja – angenommen wurde und vorsah, dass jeder „ethnische Ungar“ im Ausland – es musste nur irgend ein Vorfahre von diesem Ungar gewesen sein – die ungarische Staatsbürgerschaft verliehen bekommt, wenn er darum ansucht. Vor allem die Slowakei lief gegen diese Doppelstaatsbürgerschaft („Kettös allam-polgarsag“) Sturm, leben in ihr doch ca. 600.000 ethnische Ungarn, die damit ca. 10 % der slowakischen Gesamtbevölkerung ausmachen.
Dementsprechend drohte die Slowakei jedem Ungarn, der diese Begünstigung in Anspruch nehmen sollte, mit dem automatischen Verlust der slowakischen Staatsangehörigkeit, was zB für Beamte im öffentlichen Dienst den Verlust ihres Dienstpostens bedeuten würde. Für den Fall der Verschweigung einer Option für die ungarische Staatsbürgerschaft seitens eines Slowaken wurden Geldstrafen bis zu 3.319 Euro angedroht. [10] Die Slowakei misst hier aber mit zweierlei Maß, da die tausenden Slowaken, die gleichzeitig auch tschechische Staatsbürger sind, ihre Doppelstaatsbürgerschaft behalten dürfen.
1.2. Demokratiepolitische und rechtsstaatliche „Sündenfälle“ Ungarns
In den ungarischen Wahlen vom 11. April 2010 ging die christlich-soziale Partei Fidesz mit 52,7% als Wahlsieger hervor und erlaubte Viktor Orbán, der am 29. Mai 2010 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, ein Kabinett Orbán II zu bilden, das über eine Zweidrittelmehrheit an Mandaten im ungarischen Parlament – die Fidesz errang 263 von 386 Mandaten – verfügte [11] und diesem dementsprechend erlaubte, jederzeit auch Verfassungsgesetze zu verabschieden. Durch die Allianz mit der 2003 gegründeten rechtsradikalen Partei Jobbik Magyarországért Mozgalom, die mit 16,7% als drittstärkste Partei im ungarischen Parlament vertreten war, verfügten beide Parteien zusammen über 310 von 386 Mandaten und degradierten damit vor allem die Sozialisten (MSZP) mit 59, aber auch die Grünen (LMP) mit 16 Mandaten, zu demokratiepolitischen Statisten.
Die Regierung Orbán II nützte in der Folge diese überwältigende Mandatsmehrheit, um einen intensiven Umbau des ungarischen Staates voranzutreiben. So wurden bis zur Jahreswende 2011/2012 vom ungarischen Parlament, in etwas mehr als nur eineinhalb Jahren, insgesamt 356 Gesetze (!) und eine neue Verfassung verabschiedet. Eine Reihe dieser Gesetze, vor allem aber auch die neue Verfassung, begegneten allerdings schweren demokratiepolitischen und rechtsstaatlichen Bedenken, die nachstehend in aller Kürze dargestellt werden sollen. [12]
1.2.1. Grundgesetz Ungarns
Die am 18. April 2011 in der Nationalversammlung der Republik Ungarn beschlossene neue ungarische Verfassung ersetzte die erste geschriebene kommunistische Verfassung Ungarns vom 20. August 1949, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahre 1989 erstmals novelliert wurde. [13] Mit ihrem Inkrafttreten am 1. Januar 2012 wurde die bisherige Verfassung völlig umgestaltet und auch in „Grundgesetz Ungarns“ umbenannt. Das neue Grundgesetz stellt verstärkt auf ein kollektivistisches Menschenbild bzw. auf die ungarische Nation und die Wohlfahrtsfunktionen derselben und nicht so sehr auf die individuellen Freiräume seiner Bürger ab. Großen Bedenken begegnet vor allem aber der Umstand, dass das Grundgesetz die Annahme von über 30 sog. „Grundlagengesetzen“ („Cardinal Laws“) vorsieht, mittels derer mit Zweidrittelmehrheit eine Reihe von Materien außerhalb des Grundgesetzes geregelt werden kann, wodurch allen zukünftigen Regierungen, die über keine Verfassungsmehrheit verfügen, die Hände gebunden sind.
Genau diesen Umstand rügt die von Kommissarin Viviane Reding mit der Prüfung des ungarischen Grundgesetzes betraute „Venedig-Kommission für Demokratie durch Recht“ des Europarates, die in ihren beiden Berichten vom 28. März [14] und 18. Juni 2011 [15] feststellte, dass sowohl im ungarischen Grundgesetz, als auch in diesen „Cardinal Laws“ eine Reihe von kultur-, religions-, gesellschafts-, wirtschafts- und finanzpolitischen Bestimmungen enthalten sind, die nicht unbedenklich sind, vor allem aber kaum mehr geändert werden können. Weitere heftige Kritik am ungarischen Grundgesetz wurde auch im Entschließungsantrag der ALDE-Fraktion im Europäischen Parlament vom 29. Juni 2011 [16] geübt, in dem expressis verbis an mehreren Stellen festgehalten wurde, dass das Grundgesetz nicht mit den Grundwerten der Art. 2 EUV, Art. 11 EU-Grundrechtecharta und Art. 10 EMRK übereinstimmt. Ebenso kritisch verlief die vom Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des Europäischen Parlaments am 9. Februar 2012 in Brüssel veranstaltete Anhörung zur Situation in Ungarn,[17] bei der es dem damaligen ungarischen Vizepremierminister Tibor Navracsics und dem Präsidenten des Ungarischen Richterbundes, Lajos Makai, nicht gelang, die vorgebrachten rechtsstaatlichen und demokratiepolitischen Bedenken zu zerstreuen. Auch Viktor Orbán gelang es bei seinem Auftritt vor dem Europäischen Parlament am 18. Januar 2012 nicht, alle gegen das Grundgesetzt sowie die „Cardinal Laws“ vorgebrachten rechtsstaatlichen Einwendungen auszuräumen.
Besonders bemerkenswert ist aber der Umstand, dass die ungarische Verfassung innerhalb von eineinviertel Jahren vier mal (!) novelliert wurde, wobei vor allem die am 11. März 2013 verabschiedete vierte Novelle schwere rechtsstaatliche Bedenken hervorrief, diente sie doch unter anderem dazu, mehrere wegweisende Urteile des ungarischen Verfassungsgerichts dadurch „leerlaufen“ zu lassen, dass die dabei annullierten Gesetze inhaltlich in Verfassungsrang gehoben und damit dem Zugriff des Verfassungsgerichts entzogen wurden. [18]
1.2.2. Sonstige ungarische Gesetze
Im Einzelnen sind in diesem Zusammenhang vor allem das Gesetz über Gewissens- und Religionsfreiheit und Kirchen, das Gesetz über die Neuordnung der Justiz, das Mediengesetz, das Datenschutzgesetz und das Zentralbankgesetz zu erwähnen. [19]
Was das Gesetz über Gewissens- und Religionsfreiheit und Kirchen („Act on the Right to Freedom of Conscience und Religion, and on the Legal Status of Churches, Religious Denominations and Religious Communities“) betrifft, so sah dieses die Aberkennung des offiziellen Status einer gesetzlich anerkannten „Kirche“ für eine Reihe von Religionsgemeinschaften vor, ein Umstand, der vom Menschenrechtskommissar des Europarates, Thomas Hammarberg, in seinem Schreiben vom 16. Dezember 2011 heftig gerügt wurde. Diese Bedenken wurden vom ungarischen Außenminister Martonyi mit der Bemerkung zurückgewiesen, dass man damit lediglich den „Wildwuchs“ an Religionsgemeinschaften zurechtstutzen wollte.
In diesem Zusammenhang verdienen die von neun Religionsgemeinschaften dagegen erhobenen Individualbeschwerden [20] sowie die dazu ergangenen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 8. April 2014 [21], 28. Juni 2016 [22] und vom 25. April 2017 [23] Beachtung. In letzterer Rechtssache ging es gem. Art. 41 EMRK um eine gerechte Entschädigung im Sinne der Zuerkennung einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 3 Mio. Euro für die beschwerdeführende Religionsgemeinschaft, deren Verletzung in Konventionsrechten (Art. 11 im Lichte von Art. 9 EMRK) durch die Aberkennung des Status als staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft infolge der erwähnten neuen gesetzlichen Bestimmung und dem damit einhergehenden Verlust finanzieller Mittel – in Verbindung mit dem vorerwähnten Urteil des EGMR vom 8. April 2014 [24] – festgestellt worden war.
Hinsichtlich des Gesetzes über die Neuordnung der Justiz begegnete vor allem die Maßnahme, das Pensionsalter für Richter, Staatsanwälte und öffentliche Notare von 70 Jahren auf 62 Jahre abzusenken – wovon insgesamt 274 Richter betroffen waren – um es von 2014 an wieder schrittweise bis 2022 auf 65 Jahre anzuheben – sowohl rechtstaatlichen als auch europarechtlichen [25] Bedenken. Ganz offensichtlich diente diese Vorgangsweise nur dazu, um unliebsam gewordene Richter pensionieren und durch regimetreue Kandidaten ersetzen zu können. Des Weiteren wurde das Mandat des ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, der im Juni 2009 für sechs Jahre gewählt worden war, Ende 2011 vorzeitig beendet. Durch das Gesetz über die Neuordnung der Justiz wurde auch der Präsidentin des neu geschaffenen Nationalen Justizamtes, Tünde Hando, eine umfassende Zuständigkeit im Bereich der Justizverwaltung übertragen, sodass in der ungarischen Justiz eine einzige Person, die noch dazu eine Vertraute der Familie Orbán und Ehefrau eines Fidesz-Europaabgeordneten ist, [26] alle wichtigen Entscheidungen, einschließlich der Ernennung von Richtern, trifft.
In Bezug auf die Verabschiedung des neuen Mediengesetzes, mit dem das bisherige Gesetz über die Presse aus 1986 und das Radio- und Fernsehgesetz aus 1996 im Jahr 2010 novelliert wurden, ist wiederum festzustellen, dass vor allem die umfassenden Kompetenzen der neuen Medienaufsichtsbehörde (Nemzeti Média-és Hírkö-zlési Hatóság, NMHH), die noch dazu keiner parlamentarischen Kontrolle unterstellt wurde, Bedenken erweckten. Die NMHH entscheidet allein über Frequenzvergaben, ernennt die Führungskräfte der öffentlich-rechtlichen Medienanstalten und kann über alle Funktionäre im Medienbereich empfindliche Strafen verhängen.
Am 10. Januar 2011 wiederum erschien die einflussreiche Tageszeitung Népszabadság mit einer Titelseite, auf der in allen damaligen 23 Amtssprachen der EU nur ein einziger Satz stand: „In Ungarn wurde die Pressefreiheit abgeschafft“. Im Herbst 2016 wurde die führende Zeitung Népszabadság vom Medienrat aufgelöst. [27] Bedenklich erschien auch die Vorgangsweise der Verweigerung der Konzessionsverlängerung für den regierungskritischen Sender „Klub-Radio“. Nicht nur in der Hauptstadt Budapest, sondern auch in der Provinz erhielt der Sender keine neuen Sendelizenzen mehr.
Im Februar 2011 legte Thomas Hammarberg, der vorstehend bereits erwähnte Menschenrechtsbeauftragte des Europarates, seine Stellungnahme zum ungarischen Mediengesetz vor, in der er auf eine Reihe problematischer Bestimmungen hinwies. Am 10. März 2011 wiederum verabschiedete das Europäische Parlament eine kritische Entschließung zum Mediengesetz, [28] im Gefolge derer an diesem Gesetz einige Änderungen vorgenommen wurden. Trotzdem hielt Hammarberg seine grundsätzlichen Bedenken aufrecht. [29] Am 17. Januar 2012 richtete auch Kommissarin Neeli Kroes ein geharnischtes Schreiben an den ungarischen Vizepremier Tibor Navracsics, das allerdings ohne Reaktion blieb. Ebenso ohne Reaktion blieb eine kritische Note des Generalsekretärs des Europarates, Thorbjørn Jagland, vom 11. Januar 2012, der ganz grundlegende Zweifel an der Rechtstaatlichkeit des Vorgehens Ungarns anmeldete.
Was das Datenschutzgesetz betrifft, so wurde durch dieses ein neues nationales Amt für Datenschutz geschaffen, das das bisherige Amt des Datenschutzbeauftragten zum 1. Januar 2012 ersetzte. Damit wurde die sechsjährige Amtszeit des Datenschutzbeauftragten, der im Jahr 2008 ernannt wurde, vorzeitig beendet, ohne dass irgend eine entsprechende Übergangsmaßnahme vorgesehen wurde. Diese Beeinträchtigung der Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten ist nicht nur rechtsstaatlich bedenklich, sondern verstößt auch gegen die Bestimmungen des Art. 16 AEUV sowie des Art. 8 der EU-Grundrechtecharta. [30]
Auch das Zentralbankgesetz („Magyar Nemzeti Bank“), mit dem der ungarischen Zentralbank eine neue Struktur gegeben wurde, verstößt in einer Reihe von Bestimmungen gegen rechtsstaatliche und unionsrechtliche Vorgaben. So ist der zuständige Minister berechtigt, an den Sitzungen des Währungsrates teilzunehmen, sodass die Regierung direkten Einfluss auf die Willensbildung in der Zentralbank nehmen kann. Auch ist eine mögliche Fusion zwischen der Zentralbank und der Finanzmarktaufsichtsbehörde vorgesehen, die offensichtlich nur den Zweck verfolgte, den regierungskritischen Gouverneur der Zentralbank, András Simor, zu entmachten. [31] Darüber hinaus begegnen eine Reihe von Bestimmungen des Notenbankgesetzes Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit primärrechtlichen [32] und sekundärrechtlichen Bestimmungen [33] in der EU.
Dazu kamen 2014 ein neues Bodengesetz, das auch Unionsbürgern nicht nur den Erwerb ungarischen Ackerlandes untersagte, sondern diese auch zwang, aus dem ungarischen Grundbuch zu gehen, eine Regelung von der auch eine Reihe, vor allem burgenländischer, Bauern betroffen wurde.
2015 verschärfte Ungarn seine asylrechtlichen Bestimmungen, schloss wegen des Flüchtlingsstroms seine Grenzen und errichtete Grenzzäune, vor allem an der Grenze zu Serbien und Kroatien. Am 3. Dezember 2015 reichte Ungarn – nach der Slowakei, die ebenfalls geklagt hatte [34] – auch eine Nichtigkeitsklage gegen den Umverteilungsbeschluss des Rates vom 22. September 2015 [35] beim Gerichtshof ein, [36] in dem eine quotenmäßige Notfallumsiedlung von 120.000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland auch nach Ungarn vorgesehen war. [37] Die erste Verhandlung fand diesbezüglich am 10. Mai 2017 vor dem EuGH statt [38], in der Ungarn und die Slowakei das rechtswidrige Zustandekommen des Umverteilungsbeschlusses rügten. Bei dieser Gelegenheit kündigte Generalanwalt Yves Bot die Vorlage seiner Schlussanträge für den 26. Juli 2017 an.
Durch eine Novelle des Asylgesetzes 2016 wurden Asylwerber in Transitzonen interniert, bis endgültig über ihre Asylverfahren entschieden worden ist. 2017 wiederum wurden Asylwerber, darunter auch Kinder, für die Dauer ihres gesamten Verfahrens in Frachtcontainern interniert, die von hohen Stacheldrahtzäunen umgeben sind. Diese zwangsweise Internierung von Asylsuchenden wurde vom UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi massiv gerügt und am 10. April 2017 rief UNHCR dazu auf, Rücküberstellungen von Asylwerbern aus anderen Mitgliedstaaten nach Ungarn unter der „Dublin III“-Verordnung [39] zeitweise auszusetzen.[40]
2. Reaktion der Europäischen Kommission
Auf all diese gleichsam repetitiv und auf systematische Weise erfolgenden Verletzungen des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips in Ungarn leitete die Kommission am 17. Februar 2012 lediglich drei Vertragsverletzungsklagen gem. Art. 258 AEUV ein und machte nicht von der Möglichkeit Gebrauch, diesbezüglich eine „systemische“ Verletzung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips des Art. 2 EUV anzunehmen und das Sanktionsverfahren des Art. 7 EUV zu initiieren. Damit ging die Kommission aber nur gegen punktuelle Verstöße Ungarns gegen einzelne Vertragsbestimmungen vor, unterließ es aber, darin eine allgemeine und systematische Verletzung tragender Grundwerte der EU zu sehen und konsequenterweise das „Frühwarnsystem“ des Art. 7 Abs. 1 EUV einzuleiten.
Der wohl wichtigste Grund für diese „zurückhaltende“ Vorgangsweise der Kommission war wohl der, dass sich Ministerpräsident Orbán zum einen taktisch ausgesprochen geschickt verhielt und zum anderen sowohl in den drei anderen Visegrád-Ländern Polen, Slowakei und Tschechien, als auch in der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament großen Rückhalt hatte, sodass die notwendigen Mehrheiten für die Einleitung des „Frühwarnsystems“ des Art. 7 Abs. 1 EUV durch die Kommission als nicht gesichert erschienen. Dazu kam noch der Umstand, dass es Ungarn meisterhaft verstand, während seiner „Präsidentschaft“, die vom 1. Januar bis zum 1. Juli 2011 dauerte, von den durch die Regierung Orban II geschaffenen Problemen abzulenken, wobei ihm allerdings die sich verschärfende Finanzkrise besonders zugute kam. [41]
In der Folge ereigneten sich weitere, rechtsstaatlich mehr als bedenkliche Vorfälle in Ungarn, wie zB die rechtsradikalen und xenophoben Übergriffe von Angehörigen der Ungarischen Garde und anderer rechtsradikaler Gruppen (Vederö, Betyarsereg, Szebb Jövöert, Jobbik) gegen Roma unter dem Titel der Bekämpfung der „Zigeunerkriminalität“. In einer hitzigen Debatte im Europäischen Parlament am 17. April 2013 forderte vor allem Guy Verhofstadt von der Liberalen-Fraktion vehement die Einleitung des Sanktionsverfahrens gem Art. 7 EUV [42] und die EU-Justizkommissarin Viviane Reding schloss in der Debatte (erstmals) die Einleitung eines solchen Sanktionsverfahrens nicht mehr aus. [43]
Die von Viktor Orbán am 26. Juli 2014 geforderte Errichtung eines „illiberal state“, [44] vor allem aber die am 28. April 2015 angeregte öffentliche Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe, zuletzt aber auch die am 23. Juni 2015 bekanntgegebene Nichtanwendung des „Dubliner Erstasylabkommens“ und seiner sekundärrechtlichen Implementierung (sog. „Dublin III“-Verordnung) [45] wurde von allen Organen der EU brüsk zurückgewiesen, wobei sich das Europäische Parlament besonders exponierte und am 10. Juni 2015 eine geharnischte „Entschließung zur Lage in Ungarn“ [46] verabschiedete, in der es abschließend feststellte, dass in den Vorgängen in Ungarn eine sich anbahnende „systemische Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit“ gesehen werden könnte (Punkt 10). Des Weiteren verwies das Europäische Parlament aber auch auf den „Neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ und forderte die Kommission mit Nachdruck auf, „die erste Phase dieses EU-Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips einzuleiten und folglich unverzüglich einen umfassenden Überwachungsprozess zur Lage der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn in Gang zu setzen und dabei der Frage nachzugehen, ob möglicherweise eine schwerwiegende systemische Verletzung der in Artikel 2 EUV genannten Werte, auf die sich Union gründet, vorliegt“ (Punkt 11). [47]
Bei diesem „Neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ [48] handelt es sich um ein von der Kommission ausgearbeitetes „weicheres“ Dialogverfahren iSe dreistufigen „Verfahrens vor Anwendung von Art. 7 EUV“ („pre-article 7 procedure“), [49] das dem zu strikten und damit inoperativen Sanktionsverfahren des Art. 7 EUV vorgeschaltet wird. Sollten dessen drei Stufen nicht zu einer Behebung des „systemischen“ rechtsstaatlichen Mangels geführt haben, dann kann die Kommission das Sanktionsverfahren gem. Art. 7 EUV einleiten.
Trotz dieser Aufforderung durch das Europäische Parlament wendete die Kommission dieses rechtsstaatliche „Vor Artikel 7 EUV“-Verfahren aber nicht gegen Ungarn an, und zwar selbst dann nicht, nachdem sie dieses Mitte Januar 2016 erstmals gegen Polen zur Anwendung gebracht hatte. Auch die vorstehend erwähnten aktuellen rechtsstaatlich mehr als bedenklichen Aktivitäten Ungarns gegen die Central European University“ (CEU) [50] und die in Ungarn tätigen und vom Ausland mit mehr als 24.000 Euro/Jahr finanziell unterstützten NGOs [51] – gemeinsam mit der nationalen Fragebogenaktion „Stoppt Brüssel!“ – haben die Kommission lediglich dazu veranlasst, auf ihrer Sitzung am 12. April 2017 zu beschließen, Ende April 2017 einzelne Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV vorzubringen. Dementsprechend eröffnete sie am 26. April 2017 als erstes das Vorverfahren für ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn wegen des neuen Hochschulgesetzes [52], nahm aber einmal mehr davon Abstand, das „Vor Artikel 7 EUV“-Verfahren zur Sicherung des Rechtstaatsprinzips einzuleiten, obwohl sie in diesem Zusammenhang explizit feststellte, dass „in dieser Anhäufung die Gesamtsituation in Ungarn Anlass zur Besorgnis gibt“. [53] Die Kommission beschloss aber gleichzeitig, einen breiten politischen Dialog mit den ungarischen Behörden, den anderen Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament aufzunehmen. [54]
In diesem Zusammenhang ist es von größter Wichtigkeit, festzuhalten, dass es sich bei diesem allgemeinen Dialog nicht um ein spezielles Dialogverfahren zwischen der Kommission und Ungarn handelt, das erst nach der formellen Einleitung der ersten Stufe des neuen „EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ zur Anwendung kommen würde. Selbst wenn die Kommission im Rahmen dieses allgemeinen Dialogs – neben den Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament – auch mit Ungarn einen Dialog führt, findet dieser nicht im formellen Rahmen eines „Vor Artikel 7 EUV“-Verfahrens statt.
Obwohl Kenner der innenpolitische Situation in Ungarn unmissverständlich feststellen, „dass unsere Konfrontation mit der EU langsam unumkehrbar wird“[55] und die Kommission selbst von einer „Anhäufung“ von rechtsstaatlichen Verstößen spricht, stellt sie nach wie vor fest, dass in Ungarn keine „systemische“ Gefährdung des Rechtsstaatsprinzip vorliegt [56] und nimmt deshalb davon Abstand, das „Vor Artikel 7 EUV“-Verfahren einzuleiten. Da sowohl einige Mitgliedstaaten, vor allem aber die Visegrád-Länder, gegen ein solches Verfahren Bedenken haben und auch die notwendige Mehrheit dafür im Europäischen Parlament – aufgrund der bisherigen Unterstützung Orbáns durch die EVP-Fraktion – nicht gesichert erschien, zögert die Kommission mit der Einleitung des Verfahrens zur Sicherung der Rechtstaatlichkeit. Sollte Orbán aber, aufgrund seines Verhaltens während der Debatte im Plenum des Europäischen Parlaments am 26. April, [57] aber auch wegen seiner Rechtfertigung in der Spezialsitzung der EVP-Fraktion am 29. April 2017, den Rückhalt in dieser größten Fraktion im Europäischen Parlament verlieren, könnten sich für die Kommission unter Umständen die Rahmenbedingungen entscheidend geändert haben.
Wie bereits eingangs festgestellt wurde, ist diese unterschiedliche Behandlung der beiden Mitgliedstaaten Ungarn und Polen mehr als aufklärungsbedürftig. Zur näheren Verdeutlichung dieser Zusammenhänge, vor allem aber der Parallelität der nationalistischen und rechtsstaatsgefährdenden Vorgänge in Ungarn und Polen, soll nachstehend ein kurzer Blick auf die einschlägigen Ereignisse in Polen geworfen werden.