Nachdem in Teil 1 (EU-Infothek vom 12.05.2017) die rechtsstaatlich bedenkliche Situation in Ungarn dargestellt wurde, soll diese nachstehend mit der Situation in Polen verglichen werden. Dabei wird untersucht, warum die Europäische Kommission zwar gegen Polen, nicht aber gegen Ungarn das „Vor Art. 7 EUV“-Verfahren zur Sicherung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips eingeleitet hat und was eigentlich der wahre Grund für diese unterschiedliche Vorgangsweise der Kommission war.
3. Der offensichtlich anders gelagerte „Fall Polen“
Aus Protest gegen diese Vorgänge kam es nicht nur in Polen zur Gründung des „Komitees zur Verteidigung der Demokratie“ (KOD), sondern auch zu einer heftigen Reaktion der EU. Der erste Vizepräsident der Kommission, Frans Timmermans, forderte in zwei Schreiben vom 23. Dezember 2015 an Außenminister Witold Waszczykowski und Justizminister Zbigniew Ziobro umgehend eine nähere Aufklärung über die politischen Hintergründe dieser beiden Entscheidungen und forderte zugleich ein temporäres Aussetzen derselben. Da dies aber nicht geschah, leitete die Kommission die erste Stufe des vorerwähnten „Neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ ein und setzte für den 13. Januar 2016 eine Diskussion über die Rechtsstaatlichkeit ein Polen an.
Erstmals in der Geschichte der EU aktivierte damit die Kommission das „Vor Artikel 7 EUV“-Verfahren zur Stärkung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips gegen einen Mitgliedstaat, der ihres Erachtens die Grundwerte des Art. 2 EUV „systemisch“ verletzt. Der erste Vizepräsident der Kommission, Frans Timmermans, wurde von Präsident Jean-Claude Juncker beauftragt, die Verhandlungen mit Polen zu führen. Nachdem die „Venedig-Kommission“ am 11. März 2016 zu beiden Gesetzesvorlagen ein (negatives) Gutachten abgegeben hatte, kam es in der Folge zu einer Reihe von Briefwechseln zwischen Timmermans und einzelnen Mitgliedern der polnischen Regierung und am 5. April 2016 zu einem ersten Zusammentreffen beider Seiten in Warschau. Trotz der sich daran anschließenden intensiven „Besuchsdiplomatie“ und des dabei gepflegten Austausches der gegenseitigen Standpunkte konnten die rechtsstaatlichen Bedenken der Kommission nicht ausgeräumt werden, sodass sich diese entschloss, am 1. Juni 2016 eine „Stellungnahme zur Lage der Rechtstaatlichkeit in Polen“[61] abzugeben, in der sie die Inhalte des „strukturellen Dialogs“ mit Polen zusammenfasste und dabei auf ihre wichtigsten Bedenken anspielte, die vor allem folgende Vorgänge betrafen:
- – Die Ernennung der Richter des Verfassungsgerichts und die mangelnde Umsetzung der einschlägigen Urteile desselben vom 3. und 9. Dezember 2015;
- – Die fehlende Veröffentlichung im Amtsblatt und die mangelnde Umsetzung des Urteils des Verfassungsgerichts vom 9. März 2016 sowie seiner Urteile seit dem 9. März 2016;
- – Die Wirksamkeit der Arbeitsweise des Verfassungsgerichts und der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit neuer Rechtsvorschriften. [62]
4. Schlussbetrachtungen
Die Stoßrichtung des im Eilverfahren verabschiedeten neuen ungarischen Hochschulgesetzes, das am 11. Oktober 2017 in Kraft treten soll, richtet sich eindeutig gegen die von George Soros gegründete und finanzierte private Central European University (CEU), [70] in der seit ihrer Gründung im Jahr 1991 mehr als 15.000 Studenten ihren Abschluss gemacht haben. Laut Auskunft des Direktors der CEU, Michael Ignatieff, wäre es das erste Mal seit dem Ende des II. Weltkriegs, dass in Europa eine Universität geschlossen wird. [71] Auch mit der angekündigten strengeren Überwachung der von diesem Benefaktor ebenfalls finanzierten Nichtregierungsorganisationen (NROs/NGOs), die in Ungarn tätig sind, setzt die Regierung Orbán unbeirrt ihren Kurs auf die Errichtung eines „illiberalen Staates“ fort. Dazu kommt noch die Anfang April 2017 von der ungarischen Regierung eingeleitete Befragung aller Ungarn per Brief von Premierminister Viktor Orbán [72] über einen „Stoppt Brüssel!“-Kurs, der eine eindeutige Anti-EU-Kampagne Orbán’s darstellt und auf eine basisdemokratische Legitimierung weiterer „Sololäufe“ Ungarns zulasten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Land hin abzielt, wie dies ja schon einmal im Oktober 2016 mit der Volksbefragung über die Akzeptanz der Umverteilungen von Flüchtlingen versucht wurde, die mit einer (erwartbaren) überwältigenden 98 %-igen Mehrheit negativ ausging.
Fügt man diesen aktuellen Verstößen Ungarns die vorstehend aufgelisteten bisherigen massenhaften und schweren Verletzungen demokratischer und rechtstaatlicher Prinzipien unter den drei Regierungsperioden Viktor Orbáns hinzu, ist die eingangs zitierte Äußerung von Frans Timmermans einfach nicht nachvollziehbar, dass es in Ungarn, im Vergleich zu Polen, „keine systematische Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit“ gibt.
Ebensowenig schlüssig ist die von Timmermans dafür in einer Pressekonferenz am 12. April 2017 in Brüssel gegebene Begründung, „that the Hungarian government was still talking to Brussels. That’s a clear difference to the Polish authorities, who have refused to enter into dialogue with us on rule of law points“. [73] Mit dieser Argumentation wird der grundlegende Fehler begangen, nicht die Vielfalt und Schwere der Verletzungen des Rechtstaatsprinzips in Ungarn und Polen miteinander zu vergleichen, sondern lediglich auf die Kooperationsbereitschaft beider Länder mit der Kommission selbst abzustellen. Hier zeigt sich Viktor Orbán ganz eindeutig „elastischer“ und wendiger, während sich die polnische Regierung aufgrund der Vorgaben des Vorsitzenden der PiS, Jarosław Kaczyński, extrem zurückhält bzw. den Dialog ganz verweigert.
Die zögerliche Haltung der Kommission wird auch von der niederländischen Abgeordneten zum Europäischen Parlament (ALDE), Sophia in ‚t Veld, kritisch gesehen und als „extremely duisappointing“ bezeichnet: „It is impressive that Mr Timmermans can give a press conference in response to one of the boldest assaults on European values we face without really saying anything. A condemnation would have been nice“. [74]
In der Literatur wird die unschlüssige Reaktion der Kommission aber auch auf die aktuelle Brexit-Situation zurückgeführt, die für die Kommission durchaus auch präjudiziellen Charakter haben kann und sie daher vorsichtiger vorgehen lässt: „In theory, the EU could intervene by launching the rule of law mechanism, but while facing tough Brexit negotiations, Brussels has never been so cautious with the so-called „enfant terrible“ countries. Moreover, this procedure is not appropriate for effective intervention, just as we have seen it in the case of Poland.“ [75]
Wenngleich es nach den aktuellen Erfahrungen mit der nicht vollständigen Durchführung und bestimmungsgemäßen Beendigung des „Verfahrens zur Stärkung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips“ gegen Polen iSe Einleitung des Sanktionsverfahrens des Art. 7 EUV aus pragmatischen Gründen mehr oder weniger verständlich ist, im Moment keinen zweiten einschlägigen Versuch gegen Ungarn zu starten, bleibt doch der schale Nachgeschmack in Bezug auf die von der Kommission dafür gewählte Rechtfertigung zurück, dass die Verhältnisse in Ungarn mit denen in Polen diesbezüglich nicht vergleichbar sind.
Sie sind es zweifellos und die Kommission wäre gut beraten, hierbei keine Differenzierung vorzunehmen, die nur eine weitere Ermunterung Viktor Orbáns darstellt, mit seinen systematischen Verletzungen des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips wie bisher fortzufahren. Diese Konsequenz ist à la longue viel unangenehmer als ein weiteres nicht zu Ende geführtes „Verfahrens zur Stärkung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips“ gegen Ungarn, dessen Einleitung zumindest die Kommission in der Effektivität ihrer Rechtmäßigkeitsaufsicht bestätigen würde. Der Ball würde dann an die Mitgliedstaaten weitergegeben werden, die sich in der Folge Gedanken machen müssten, wie sie die immer mehr ausgehöhlte innere Kohäsion in so essentiellen Fragen wie der Sicherung der Rechtsstaatlichkeit wieder herstellen können. Die Zeit drängt und gutgemeinte, aber keinesfalls sachgerechte, Camouflagen der Kommission, iSe diesbezüglichen Differenzierung zwischen Polen und Ungarn als Verletzerstaaten der gemeinsamen Wertebasis, sind daher im Grunde kontraproduktiv.
58 Donald Tusk, Regierungschef einer im November 2007 aus der liberal-konservativen Bürgerplattform PO und der gemäßigten Bauernpartei PSL gebildeten Koalitionsregierung (PO-PSL), wurde im September 2014 durch Ewa Kopacz als Regierungschefin abgelöst und in der Folge am 1. Dezember 2014 zum Präsidenten des Europäischen Rates gewählt.
59 Grimm, D. Grenzen der Mehrheitsherrschaft, FAZ vom 4. Januar 2016, S. 9.
60 Vgl. Hummer, W. Versetzt Polen dem „Weimarer Dreieck“ den Todesstoß?, Europäische Rundschau 1/2016, S. 41 ff..
61 //europa.eu/rapid/press-release_IP-16-2015_en.htm
62 //europa.eu/rapid/press-release_IP-16-2643_de.htm; vgl. Hummer, W. Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen, EU-Infothek vom 2. August 2016.
63 Empfehlung der Kommission vom 27. 7. 2016 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen, C(2016) 5703 final.
64 Zitiert nach Brössler, D. Brüssel: Rechtsstaat in Polen gefährdet, Süddeutsche Zeitung vom 28. Juli 2016, S. 1
65 Interviewaussage von Jean-Claude Juncker in: Kopeinig, M. „Der Rechtsstaat ist lädiert“, Kurier vom 30. Juli 2016, S. 7.
66 Daran ändert der Umstand nichts, dass Ungarn am 9. März 2017 der Wiederwahl von Donald Tusk im Europäischen Rat gegen heftigen Widerstand Polens zugestimmt hat; vgl. Hummer, W. „Noch ist Polen nicht verloren“, es ist aber völlig isoliert, ÖGfE Policy Brief 8‘2017; Lang, K.-O. Differenzieren und Kooperieren, SWP Aktuell 22. März 2017, S. 3.
67 Empfehlung (EU) 2017/146 der Kommission; ABl. 2017, L 22, S. 65 ff.
68 Becker, M. Brüsseler Kommissarin droht Osteuropäern mit Geldentzug, SPIEGELOnline, vom 7. März 2017; auf die interessante Frage, ob die ungarische Regierung diese Vetomöglichkeit nach der Einleitung eines Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 EUV auch gegen Ungarn verlieren würde, kann hier nicht eingegangen werden.
69 Steiner-Gashi, I. EU droht Ungarn mit Verfahren (Fn. 4), a.a.O
70 Vgl. Kálnoky, B. Uni-Gesetz spaltet Orbán-Partei, Die Presse vom 14. April 2017, S. 4; EU droht Ungarn wegen Soros-Uni, Wiener Zeitung vom 13. April 2017, S. 6.
71 Steiner-Gashi, I. Europa nimmt sich Viktor Orban vor, Kurier vom 26. April 2017, S. 5.
72 ÁLLÍTSUK MEG Brüsszelt!; Text dieses Briefs von Viktor Orbán an das ungarische Volk, der sechs Suggestivfragen enthält, in: Laczynski, M. – Böhm, W. Orbáns neue Front gegen Europa, Die Presse vom 7. April 2017, S. 5.
73 Zitiert nach Teffer, P. EU gives Hungary more time for dialogue, euobserver, vom 12. April 2017, S. 3.
74 Teffer, P. EU gives Hungary more time for dialogue (Fn. 73), a.a.o.
75 Zgut, E. – Przybylski, W. Central Europe’s decline into authoritarianism (Fn. 6), a.a.O.