Kumulierungsmöglichkeit strafrechtlicher und verwaltungs(straf)rechtlicher Sanktionen
Mit seinen Urteilen vom 20. März 2018 hat der Gerichtshof (EuGH) einmal mehr grundlegende Aussagen zum „ne bis in idem“-Grundsatz („nicht zweimal in derselben Sache“) gemacht, die seine bisherige Rechtsprechung zum Verbot der Doppelbestrafung weiter aufdifferenzieren. Aus österreichischer Sicht ist diese Rechtsprechung besonders relevant, verfügt es doch mit seiner singulären Dichotomie „Strafrecht“ versus „Verwaltungs(straf)recht“ über ganz besondere Voraussetzungen für eine differenzierte Anwendung des „ne bis in idem“-Grundsatzes. So brachte Österreich diesbezüglich zum „ne bis in idem“-Verbot in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK (1984) explizit den Vorbehalt an, dass sich dieses Verbot der Doppelbestrafung nur auf „Strafverfahren“ iSd österreichischen Strafprozessordnung (StPO) bezieht. Daneben ist aber im Verwaltungsstrafrecht das „Kumulationsprinzip“ zu beachten, das nach den Plänen der gegenwärtigen Bundesregierung grundlegend überarbeitet bzw. 2020 ganz abgeschafft werden soll. Diesen komplexen und miteinander in Zusammenhang stehenden Fragen soll nachstehend entsprechend nachgegangen werden.
Die aus dem römischen Recht stammende Rechtsparömie „bis de eadem re ne sit actio“, abgekürzt und verbalhornt „ne bis in idem“ genannt, drückt einen Teilaspekt der materiellen Rechtskraft in dem Sinne aus, dass ein mit Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbares Urteil einen bestimmten Sachverhalt endgültig klärt, über den nicht neuerlich ein Verfahren eröffnet werden soll. Damit stellt der „ne bis in idem“-Grundsatz prinzipiell ein verfahrensrechtliches Wiederholungsverbot „in derselben Sache“ – wobei Identität der Tat und der Person vorliegen muss – dar.
Obwohl dieser Grundsatz auch im Verwaltungs- und Zivilrecht Anwendung findet, kommt er überwiegend im Strafrecht zum Tragen und bedeutet dort das Verbot der Doppelbestrafung, verbietet aber grundsätzlich auch eine erneute Strafverfolgung. Der Grundsatz des „Strafanklageverbrauchs“ kann nur in ganz bestimmten Fällen, wie zB in Form der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens, durchbrochen werden. Grundsätzlich findet der Strafanklageverbrauch an sich auch nur innerhalb eines einzelnen Staates, nicht aber durch das Ergehen ausländischer Urteile statt, allerdings nur insoweit, als es darüber keine internationalen Verträge gibt, die eine solche Wirkung vorschreiben.
„Der Grundsatz „ne bis in idem“ im Staatsrecht, im Völkerrecht und im Europarecht
Dementsprechend ist der allgemeine Rechtsgrundsatz des „ne bis in idem“ nicht nur im nationalen Recht, sondern auch im Völkerrecht sowie im Europarecht enthalten, allerdings in unterschiedlichen Ausprägungen. So findet er sich zB in der deutschen Verfassung (Art. 103 Abs. 3 GG), in Art. 14 Abs. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (1966),[1] in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK (1984)[2], in Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) (1990)[3] sowie in Art. 50 der Europäischen Grundrechtecharta[4], die gem. Art. 6 Abs. 1 EUV einen Bestandteil des Unionsrechts im Rang von Primärrecht darstellt. Daneben ist er in der ständigen Judikatur des EuGH auch als allgemeiner (ungeschriebener) Rechtsgrundsatz des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts anerkannt.
In all diesen Rechtsgrundlagen ist der „ne bis in idem“-Grundsatz nicht nur in durchaus unterschiedlichen „Konnotationen“ verankert, sondern auch judikativ durch die Rechtsprechung der österreichischen (Höchst)Gerichte (VerfGH, VerwGH, OGH, UVS), des Gerichtshofs der EMRK (EGMR) und des Gerichtshofs der EU (EuGH und EuG) unterschiedlich ausgeformt.[5] Sollte es in absehbarer Zeit einmal zu dem in Art. 6 Abs. 2 EUV (verbindlich) vorgesehenen Beitritt der EU zur EMRK kommen,[6] dann hätte der Gerichtshof der EU in seinen Judikaten die einschlägigen Urteile des EGMR „telle quelle“ zu berücksichtigen, ein Umstand, der wohl mit ein Grund dafür war, dass der EuGH im Dezember 2014 ein negatives Gutachten zum Beitrittsvertrag der EU zur EMRK abgegeben hat[7]. Anschließend sollen die wichtigsten Urteile des EuGH zum „ne bis in idem“-Verbot dargestellt werden, aus denen, zumindest ansatzweise, die unterschiedliche Fallgestaltung bei der Anwendung dieses Grundsatzes anschaulich hervorgeht.
Dis bisherige einschlägige Judikatur des EuGH
Erstmals wurde der EuGH im Bereich der strafrechtlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der EU mit der Anwendung des Art. 54 SDÜ in den verbundenen Rechtssachen Gözütok und Brügge[8] befasst, bei denen es um eine in den Niederlanden bereits eingeleitete Strafverfolgung eines türkischen Beschuldigten gegangen war, die allerdings mit einer Verfahrenseinstellung ohne Verurteilung und ohne Einschaltung eines Gerichts (sog. „transactie“) beendet wurde, nachdem der Beschuldigte einen von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrag entrichtet hatte. Auch in der zweiten Rechtssache, einem belgischen Ausgangsverfahren gegen einen deutschen Beschuldigten, dessen Verfahren wegen derselben Sache in Deutschland zuvor gegen Zahlung eines Geldbetrages eingestellt worden war, ergab sich die Frage, ob Art. 54 SDÜ auf solche „staatsanwaltschaftlichen Vergleiche“ Anwendung findet.[9] Die „Diversion“ des österreichischen Strafprozessrechts kennt übrigens ein ähnliches Prozedere.
Der EuGH stellte diesbezüglich fest, dass das Verbot der Doppelbestrafung gem. Art. 54 SDÜ nicht nur für Strafurteile eines Gerichts, sondern auch für Entscheidungen gilt, mit denen die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaates, ohne Mitwirkung eines Gerichts, ein in diesem Mitgliedstaat eingeleitetes Strafverfahren einstellt, nachdem der Beschuldigte eine Geldbuße bezahlt oder bestimmte Auflagen erfüllt hat. Konkret hob der EuGH in seiner Begründung den Umstand hervor, dass die Anwendung des Art. 54 SDÜ auf „staatsanwaltschaftliche Vergleiche“ die Rechte der Opfer von Straftaten deswegen nicht verletzt, da diesen ja in jedem Fall der Zivilrechtsweg offen steht.
Nach einer Reihe weiterer einschlägiger Judikate des EuGH[10] kam es Ende 2008 zu einem weiteren grundlegenden Judikat des EuGH[11], in dem dieser abzuklären hatte, ob Art. 54 SDÜ auch im Fall einer Verurteilung Anwendung findet, die nie vollstreckt werden konnte. Diesbezüglich stellte der EuGH fest, dass diese Bestimmung auf ein Strafverfahren Anwendung findet, das in einem Schengen-Vertragsstaat wegen einer Tat eingeleitet wird, für die der Angeklagte bereits in einem anderen Vertragsstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist, auch wenn die Strafe, zu der er verurteilt wurde, nach dem Recht des Urteilsstaats wegen verfahrensrechtlicher Besonderheiten nie unmittelbar vollstreckt werden konnte. Mit dieser Auslegung wollte der EuGH offensichtlich vermeiden, dass eine Person aufgrund des Umstands, dass sie ihr Recht auf Freizügigkeit (Art. 45 bis 48 AEUV) ausübt, wegen derselben Tat im Hoheitsgebiet mehrerer Schengen-Vertragsstaaten verfolgt werden kann. Das Recht auf Freizügigkeit kann nämlich nur dann effektiv gewährleistet werden, wenn der Betroffene die Gewissheit hat, dass er sich, wenn er einmal verurteilt worden ist und die gegen ihn verhängte Strafe nach den Gesetzen des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann, im Schengen-Raum frei bewegen kann, ohne eine Verfolgung in einem anderen Schengen-Staat befürchten zu müssen.
Eine weitere grundlegende Fragestellung ergab sich für den EuGH 2014 in der Rechtssache Zoran Spasic[12], bei der es um die Frage ging, ob im Falle des Bestehens einer Sanktion aus einer Freiheits– und einer Geldstrafe, die Vollstreckung letzterer vor der Verhängung ersterer in einem anderen Schengen-Mitgliedstaat schützt bzw. inwieweit diesbezüglich Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Grundrechte-Charta der EU divergieren. Art. 54 SDÜ macht die Verhängung des „ne bis in idem“-Grundsatzes nämlich davon abhängig, dass die verhängte Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann (sog. „Vollstreckungsbedingung“). Im Gegensatz dazu sieht Art. 50 der Grundrechte-Charta der EU, die sich in ihren Erläuterungen ausdrücklich auf das SDÜ bezieht, den „ne bis in idem“-Grundsatz ohne spezielle Bezugnahme auf eine solche Bedingung vor. Zoran Spasic, ein Serbe, der wegen eines 2009 in Mailand begangenen Betrugsdelikts in Italien zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Geldstrafe von 800 Euro verurteilt wurde, zahlte zwar die Geldstrafe, verbüßte aber die Freiheitsstrafe nicht. Spasic, der wegen anderer Delikte in der Folge in Österreich inhaftiert war, wurde von Österreich aufgrund eines in Deutschland erlassenen Europäischen Haftbefehls an Deutschland ausgeliefert, wo er sich seit Ende 2013 wegen des in Italien begangenen Betrugsdelikts in Untersuchungshaft befand. Aus der Sicht der deutschen Behörden kam das „ne bis in idem“-Verbot des Art. 54 SDÜ deswegen nicht zur Anwendung, da die Freiheitsstrafe in Italien noch nicht vollstreckt worden sei. Spasic hielt dem entgegen, dass die in Art. 54 SDÜ vorgesehene Vollstreckungsbedingung mit Art. 50 der Grundrechte-Charta an sich nicht vereinbar sei und er deswegen aus der Haft entlassen werden müsse, da er die Geldstrafe von 800 Euro bereits bezahlt habe, wodurch die verhängte Sanktion eben vollstreckt worden sei. Im Gegensatz dazu ging der EuGH davon aus, dass die im Art. 54 SDÜ enthaltene Vollstreckungsbedingung eine mit Art. 50 der Grundrechte-Charta vereinbare Einschränkung des „ne bis in idem“-Grundsatzes darstelle, da in den Erläuterungen zur Grundrechte-Charta ausdrücklich auf das SDÜ Bezug genommen wird, sodass das SDÜ diesen in der Grundrechte-Charta verankerten Grundsatz in zulässiger Weise einschränkt. Darüber hinaus steht die Vollstreckungsbedingung in einem angemessenen Verhältnis zu dem Ziel, im Schengen-Raum für ein hohes Sicherheitsniveau zu sorgen, und geht auch nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um zu verhindern, dass rechtskräftig Verurteilte der Strafe entgehen. Werden in einem Fall sowohl eine Freiheitsstrafe, als auch eine Geldstrafe als (zwei) Hauptstrafen verhängt, dann lässt die bloße Zahlung der Geldstrafe nicht den Schluss zu, dass die Sanktion iSd Art. 54 SDÜ bereits vollstreckt worden ist oder gerade vollstreckt wird. Wenn also zwei Hauptstrafen verhängt worden sind, reicht es nicht aus, wenn bloß die eine verbüßt wurde.[13]
Die neueste Judikatur des EuGH zum „ne bis in idem“-Grundsatz
Eine ganz grundlegende Aussage zur Zulässigkeit der Kumulierung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur mit einem Strafverfahren ist nunmehr dem Urteil des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen Enzo Di Puma und Antonio Zecca[14] zu entnehmen, in denen der Gerichtshof zu beurteilen hatte, welche Auswirkungen ein endgültig freisprechendes Strafurteil auf das Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion hat, bei dem es um dieselbe wie die im Strafurteil für nicht erwiesen erachtete Tat geht. In concreto handelte es sich dabei um die Umsetzung des Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6/EG über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch).[15]
Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang in zwei weiteren Rechtssachen fest, dass die Fortsetzung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur, das sich auf dieselbe Tat stützt, eine Einschränkung des in Art. 50 der Grundrechte-Charta verbürgten Grundrechts darstellt.[16] Eine solche Einschränkung des Grundsatzes „ne bis in idem“ kann jedoch nach Art. 52 Abs. 1 Grundrechte-Charta insoweit gerechtfertigt werden, als das Ziel – nämlich die Integrität der Finanzmärkte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Finanzinstrumente zu schützen – eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur rechtfertigen kann, wenn zur Erreichung eines solchen Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen.[17]
Aus der Sicht des EuGH können dann gegen ein und dieselbe Person gleichzeitig strafrechtliche und verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt werden, wenn die nationale Ausnahmeregelung vom „Doppelbestrafungsverbot“ kumulativ folgende vier Voraussetzungen erfüllt: erstens muss sie eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung haben, die eine solche Kumulierung der Strafen überhaupt rechtfertigten kann; zweitens muss die nationale (gesetzliche) Bestimmung präzise Regeln enthalten, die es den Bürgern ermöglichen, zu antizipieren, bei welchen Handlungen bzw. Unterlassungen eine doppelte Bestrafung infrage kommt; drittens muss in der nationalen Regelung Vorsorge dafür getroffen werden, dass die Verfahren untereinander koordiniert werden, um die Belastungen, die mit einer Doppelbestrafung verbunden sind, für den Betroffenen auf ein Mindestmaß zu beschränken und viertens muss dabei gewährleistet sein, dass die Sanktionen im Verhältnis zur Schwere der Straftat auf das zwingend erforderliche Maß beschränkt werden. Gibt es allerdings einen rechtskräftigen Freispruch, mit dem festgestellt wird, dass keine Straftat vorliegt, dann wäre die Verhängung einer Geldbuße in einem Verwaltungsstrafverfahren mit dem „ne bis in idem“-Grundsatz unvereinbar.[18]
Bei der Fortsetzung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur ist jedoch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt einzuhalten. Im Unterschied zu der Situation, die zum Urteil des Gerichtshofes in der Rs. Åkerberg Fransson[19] geführt hat – wo das Strafverfahren nach der Verhängung einer steuerrechtlichen Sanktion eingeleitet worden war – werfen die gegenständlichen Ausgangsverfahren die Frage auf, ob ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur fortgesetzt werden kann, wenn es in einem Strafurteil zu einem entsprechenden Freispruch gekommen ist. Dabei würde die Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur offensichtlich über das hinausgehen, was zur Erreichung der notwendigen Zielsetzung erforderlich wäre, da es ja ein endgültig freisprechendes Strafurteil gibt, in dem festgestellt wird, dass der inkriminierte Straftatbestand nicht erfüllt ist. Angesichts einer solchen Feststellung steht Art. 50 Grundrechte-Charta der Fortsetzung von Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur entgegen. Dementsprechend darf ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion nicht fortgesetzt werden, nachdem in einem endgültigen freisprechenden Strafurteil festgestellt wurde, dass die Begehung der Tat nicht erwiesen ist.
Judikatur des EGMR zur Frage der Doppelbestrafung
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seiner Judikatur zu Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK ähnliche Kriterien entwickelt, nach denen die Frage einer Doppelbestrafung zu prüfen und zu beurteilen ist, und diese folgendermaßen zusammengefasst: Werden gegen eine Person aus ein- und demselben Vorfall von verschiedenen Behörden in verschiedenen Verfahren mehrere Sanktionen verhängt, die als Strafen iSd EMRK angesehen werden können, so liegt dann kein Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot vor, wenn ein ausreichend enger Zusammenhang zwischen den Verfahren gegeben war, und zwar sowohl inhaltlich, als auch zeitlich. Bei einem solchen engen Zusammenhang kann nämlich nicht davon gesprochen werden, dass der Betroffene nach einer endgültigen Entscheidung wegen derselben Sache nochmals bestraft worden ist. Die Verfahren werden vielmehr als Einheit betrachtet.
Um von einem ausreichend engen inhaltlichen Zusammenhang ausgehen zu können, sind in diesem Zusammenhang mehrere Faktoren entscheidend: Zum einen ist maßgeblich, ob die verschiedenen Verfahren auch verschiedene Zwecke verfolgen und damit, nicht bloß abstrakt, sondern auch konkret, verschiedene Aspekte des in Rede stehenden Fehlverhaltens sanktioniert werden. Zum anderen ist zu beachten, ob die unterschiedlichen Verfahren für den Beschuldigten vorhersehbar und so aufeinander abgestimmt waren, dass eine doppelte Beweisaufnahme und unterschiedliche Beweiswürdigung möglichst vermieden, bzw. Beweisergebnisse in den jeweils anderen Verfahren berücksichtigt werden konnten. Vor allem kommt es aber darauf an, ob die später auferlegte Sanktion auf die bereits erfolgten vorangegangenen Sanktionen Bedacht genommen hat, sodass die Gesamtstrafe als verhältnismäßig anzusehen ist. Trotz des Vorliegens dieser meritorischen Kriterien ist zusätzlich erforderlich, dass zwischen den gegenständlichen Verfahren ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht, die Verfahren also möglichst gleichzeitig geführt und abgeschlossen werden.[20]
„Kumulationsprinzip“ bei Verwaltungsdelikten
Rechtsdogmatisch völlig getrennt von der Frage der Relativierung des „ne bis in idem“-Grundsatzes muss der Versuch der Umformung bzw. Eliminierung des „Kumulationsprinzips“ bei Verwaltungsstrafen betrachtet werden, den sich die Bundesregierung auf ihre Fahnen geschrieben hat.[21] Das Kumulationsprinzip ist ein wesentliches Merkmal des Verwaltungsstrafverfahrens und stellt einen grundlegenden Unterschied zum gerichtlichen Strafverfahren dar. Verwaltungsstrafen werden grundsätzlich nebeneinander verhängt, dh dass jede Übertretung von Verwaltungsvorschriften getrennt zu bestrafen ist. Unmissverständlich stellt in diesem Zusammenhang § 22 Abs. 2 Verwaltungsstrafgesetz (VStG) 1991[22] fest: „Hat jemand durch mehrere selbständige Taten mehrere Verwaltungsübertretungen begangen oder fällt eine Tat unter mehrere einander nicht ausschließende Strafdrohungen, so sind die Strafen nebeneinander zu verhängen. Dasselbe gilt bei einem Zusammentreffen von Verwaltungsübertretungen mit anderen von einer Verwaltungsbehörde zu ahndenden strafbaren Handlungen“.
Bei Verwaltungsstrafen, die gegen Unternehmen verhängt werden, kann es in diesem Zusammenhang aber zu einer Summierung von Strafen kommen, sodass schon bei geringen Verstößen hohe Geldbußen anfallen. Zeichnet zB ein KMU bei drei Mitarbeitern einmal die Mittagspause nicht auf, drohen neun Strafen: wegen Nichtaufzeichnung der Pause, wegen der Nichtgewährung der Pause und wegen der Überschreitung der Höchstarbeitszeit – und das mal drei für jeden der drei Mitarbeiter.[23] Damit ergibt sich ein hohes Strafausmaß, da das Unternehmen in neun Fällen beanstandet und das Strafausmaß des Einzelfalles kumuliert wurde. Aus einer Nachzahlung in Höhe von 153 € wegen eines Fehlers in der Lohnverrechnung ergab sich damit in der Folge eine Strafzahlung in Höhe von 11.000 €.[24] Als ein weiteres Beispiel wird die Überschreitung der Höchstgrenzen der Arbeitszeit genannt: diese wird derzeit mit einer Strafe zwischen 72 € und 1.815 € geahndet, und zwar pro Arbeitnehmer, den der Verstoß betrifft. Bei Arbeitszeitüberschreitungen von 150 Mitarbeitern ergibt sich derzeit eine Mindeststrafe von 10.800 €. Würden aber die in der neuen Regelung der Bundesregierung für eine Entschärfung des Kumulationsprinzips enthaltenen Bestimmungen, auf die nachstehend eingegangen wird, angewendet, dann würde sich eine Mindeststrafe von lediglich 72 € ergeben und selbst die Höchststrafe wäre mit 1.815 € begrenzt.[25] Die AK wiederum verweist auf den Arbeitsrechtsfall rund um das Bordservice bei „Henry am Zug“. Weil Pausen zu Unrecht vom Lohn abgezogen wurden, muss das Unternehmen jetzt mehr als 100.000 € Strafe zahlen. Ohne „Kumulation“ würde die Strafe aber lediglich 200 € ausmachen.[26]
Die Sozialpartner sehen daher durch diesen Gesetzesentwurf der aktuellen Bundesregierung wichtige Bereiche des Rechtsschutzes der Arbeitnehmer und des Kampfes gegen Lohn- und Sozialdumping gefährdet. Der leitende Sekretär des ÖGB, Bernhard Achitz, bringt das Problem auf den Punkt, in dem er anmerkt, dass die Abschaffung des Kumulationsprinzips Schwarzunternehmer dazu anreizt, ihre Arbeitnehmer nicht bei der Krankenkasse anzumelden, da sie künftig lediglich nur mehr pauschal 855 € Verwaltungsstrafe zu zahlen haben – auch wenn es sich um hunderte Beschäftigte handelt.
„Kumulationsprinzip“ versus „Absorptionsprinzip“
Der von der WKÖ beauftragte Grazer Verwaltungsrechtler Gerhard Wielinger regt in seinem Gutachten für die Neugestaltung des § 22 VStG in diesem Zusammenhang an, dass das Kumulationsprinzip zum Teil durch das im Justizstrafrecht geltende „Absorptionsprinzip“ ersetzt werden soll, gemäß dessen beim Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen nur eine Strafe verhängt werden soll, die nach dem Gesetz zu bestimmen ist, das die höchste Strafe androht. In der Neufassung des § 22 Abs. 2 VStG sollen daher grundsätzlich zwei Fälle unterschieden werden, in denen das Kumulationsprinzip beseitigt werden soll: Erstens, dass durch mehrere zusammenhängende Taten eine Verwaltungsübertretung begangen wird und zweitens, dass durch eine Tat bzw mehrere zusammenhängende Taten mehrere Verwaltungsübertretungen begangen werden.[27]
Die einschlägigen Umgestaltungspläne der Bundesregierung
In ihrer Regierungsvorlage für ein Bundesgesetz, mit dem ua auch das Verwaltungsstrafgesetz 1991 geändert werden soll,[28] geht die Bundesregierung von einer Entschärfung des Kumulationsprinzips aus. Es soll dann nur noch eine einzige Strafe geben, wenn durch eine Tat dieselbe Vorschrift mehrmals verletzt wird. Es muss dabei aber ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den einzelnen Taten bestehen (sog. „Tateinheit“). Bis dahin soll für solche Fälle eine außerordentliche Strafmilderung Platz greifen und Mehrfachstrafen sind dann auf ein angemessenes Ausmaß herabzumildern, wenn die Summe der Einzelstrafen im Hinblick auf das Verschulden unverhältnismäßig wäre. Ganz grundsätzlich sollen Vergehen mit lediglich geringem Verschuldensgrad der Maxime „Beraten statt strafen“ unterstellt werden, dh Straftäter mit geringem Verschulden sollen nicht bestraft, sondern beraten und lediglich abgemahnt werden. Reichte bisher die bloße Fahrlässigkeit laut Verwaltungsstrafgesetz aus, um eine Tat zu bestrafen, soll es künftig bei Strafdrohungen von über 50.000 € zu einer Umkehrung der Beweislast kommen, dh dass die Gerichte eine Schuld nachzuweisen haben. Bisher begründete ja das Vergehen die Schuld. Ganz allgemein soll das Kumulationsprinzip bei Strafen für Unternehmen ab dem Jahr 2020 völlig aufgehoben werden.
Wie hoch die Ersparnis für die Unternehmer im Falle des Auslaufens des Kumulationsprinzips wäre, lässt sich schwer einschätzen. Im Gesetzesentwurf finden sich dazu keine Angaben. Laut Finanzministerium hat die Finanzpolizei 2017 im Zusammenhang mit Schwarzarbeit Strafen in Höhe von 32 Mio. € beantragt, davon 11,6 Mio. € wegen Lohn- und Sozialdumping und 7,6 Mio. € wegen illegaler Ausländerbeschäftigung. Wie viele „kumulierte“ Mehrfachstrafen darin enthalten sind, wird aber nicht ausgewiesen.[29]
Völkerrechtliche Zuordnung des „Verwaltungsstrafrechts“
Abschließend soll noch auf die interessante Frage eingegangen werden, wie denn in anderen Rechtsordnungen das österreichische Spezifikum des Verwaltungsstrafrechts rechtssystematisch eingeordnet wird. Gem. Art. 31 Abs. 1 der Wiener Diplomatenrechtskonvention (1961)[30] genießen Diplomaten im Empfangsstaat absolute Immunität (nur) von der Strafgerichtsbarkeit, von der Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit sind sie nur insoweit eximiert, als es sich dabei nicht um die drei in den lit. a) bis c) des Abs. 1 aufgezählten Ausnahmetatbestände handelt. Es stellte sich daher die Frage, ob die österreichische Verwaltungsstrafgerichtsbarkeit dem Tatbestand der Strafgerichtsbarkeit (mit absoluter Immunität) oder dem der Verwaltungsgerichtsbarkeit (mit bloß relativer Immunität) zuzuordnen ist, was ja auch mit durchaus unterschiedlichen Konsequenzen für die Diplomaten verbunden wäre. Mit dem Argument des überwiegend pönalen Charakters des Verwaltungsstrafrechts erfolgte in praxi diesbezüglich die Zuordnung dieser Materie korrekterweise zum Strafrecht. In Österreich sieht nämlich das Verwaltungsstrafgesetz (1991)[31] als Verwaltungsstrafen für Übertretungen von Verwaltungsvorschriften neben Geldstrafen – im Falle von deren Uneinbringlichkeit – auch Ersatzfreiheitsstrafen und daneben sogar primäre Freiheitsstrafen vor. Da diesbezüglich aber sogar Freiheitsstrafen verhängt werden können, ist damit der pönale Aspekt des österreichischen Verwaltungsstrafrechts auch völkerrechtlich eindrücklich belegt.
Schlussbemerkungen
Die vorstehend angeführten Fälle einer – allerdings unterschiedlich weit gehenden – Relativierung des Grundsatzes „ne bis in idem“ deuten auf einen paradigmatischen Wechsel in der Betrachtung des bisher als sakrosankt empfundenen Verbots der „Doppelbestrafung“ hin. Wenngleich die einschlägigen Judikate des EuGH an sich nur fallspezifisch ergangen und dementsprechend auch zu verstehen sind, lassen sie in einer zulässigen Verallgemeinerung eine eindeutige Tendenz in dem Sinn erkennen, Kumulierungsmöglichkeiten von Strafen nicht mehr „ex ante“ auszuschließen, sondern, in speziellen Fallkonstellationen, auch zuzulassen. Dieser Umstand ist vor allem für Österreich, einem Mitgliedstaat der EU, in dem mit der singulären rechtsdogmatischen Situation des Verwaltungsstrafrechts besondere Verhältnisse herrschen, von Bedeutung.
Aber auch im Bereich der EMRK nimmt Österreich damit eine Sonderstellung ein. Nicht umsonst ergingen schon bisher die meisten einschlägigen Judikate des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hinsichtlich einer behaupteten Verletzung des „ne bis in idem“-Grundsatzes in Rechtssachen mit Bezug zur österreichischen Rechtsordnung.
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[1] BGBl. 1978/591.
[2] BGBl. 1988/628 idgF; für die Differenzierung zwischen Zusatz- und Änderungsprotokollen zur EMRK vgl. Hummer, W. „Zusatzprotokolle“ versus „Änderungsprotokolle“ zur EMRK. Zur Klarstellung zweier immer wieder verwechselter Begriffe, Austrian Law Journal 3/2017, S. 183 ff.
[3] ABl. 2000, L 239, S. 19 ff.
[4] ABl. 2016, C 202, S. 389 ff.
[5] Siehe dazu die Zusammenstellung der einschlägigen Judikatur bei Postlmayr, J. Doppelbestrafung; http: www.emrk.at/rechte/ZP/art4-7.htm
[6] Vgl. dazu Hummer, W. Strukturdivergenzen zwischen dem Grundrechtsschutz in der EU und nach der EMRK – unter besonderer Berücksichtigung des zukünftigen Beitritts der EU zur EMRK, in: Grundrechtsschutz, Minderheitenschutz, Datenschutz – Weichenstellungen für Europa, 9. Rechtsschutztag des BM.I, Schriftenreihe BM.I, Bd. 14 (2012), S. 23 ff.
[7] EuGH, Gutachten 2/13, Urteil vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454); vgl. dazu Hummer, W. Der Beitritt der EU zur EMRK. Notwendige Änderungen und Anpassungen, EU-Infothek vom 15. November 2011 (Teil 1) und EU-Infothek vom 22. November 2011 (Teil 2).
[8] EuGH, verb. Rs. C-187/01 und C-385/01, Hüseyin Gözütok und Klaus Brügge, Urteil vom 11. Februar 2003 (EU:C:2003:87).
[9] Vgl. Soyer, R. Schutz vor Doppelbestrafung in der EU, Der Standard, vom 11. März 2003.
[10] EuGH, Rs. C-150/05, Jean von Straaten, Urteil vom 28. September 2006 (EU:C:2006:614); EuGH, Rs. C-436/04, Henri van Esbroek, Urteil vom 9. März 2006 (EU:C:2006:165); EuGH, Rs. C-469/03, Filomeno M. Miraglia, Urteil vom 10. März 2005 (EU:C:2005:156).
[11] EuGH, Rs. C-297/07, Staatsanwaltschaft Regensburg/Klaus Bourquain, Urteil vom 11. Dezember 2008 (EU:C:2008:708)
[12] EuGH, Rs. C-129/14 PPU, Zoran Spasic, Urteil vom 27. Mai 2014 (EU:C:2014:586).
[13] Vgl. Ferner, J. EuGH zum Verbot der Doppelbestrafung – §54 SDÜ vs. Grundrechtecharta, vom 31. Mai 2014; https://www.ferner-alsdorf.de/strafrecht_eugh-zum-verbot-der-doppelbestrafung-%c…; Geldstrafe schützt vor Freiheitsstrafe nicht, vom 27. Mai 2014; https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/eugh-urteil-c-129-14-ppu-schengen-doppelbest…
[14] EuGH, verb. Rs. C-596/16 und C-597/16, Enzo Di Puma/Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob) und Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob)/Antonio Zecca, Urteil vom 20. März 2018 (EU:C:2018:192).
[15] ABl. 2003, L 96, S. 16 ff.
[16] Vgl. EuGH, Rs. C-524/15, Menci, Urteil vom 20. März 2018, Rndr. 39 (EU:C:2018:197) und EuGH, Rs. C-537/16, Garlsson Real Estate, Urteil vom 20. März 2018, Rdnr. 41 (EU:C:2018:193).
[17] EuGH, Rs. C-537/16, Garlsson Real Estate (Fn. 16), Rdnr. 46.
[18] Vgl. Hecht, J. EuGH: Doppelbestrafung in bestimmten Fällen möglich, Die Presse, vom 23. März 2018, S. 15; Grundsatz „ne bis in idem“ gilt nicht uneingeschränkt, LTO vom 20. März 2018; https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/eugh-c52415-ne-bis-in-idem-verbot-doppelte-b…
[19] EuGH, Rs. C-617/10, Åkerberg Fransson, Urteil vom 26. Februar 2013 (EU:C:2013:105).
[20] EGMR, A und B/Norwegen, 24130/11, Urteil vom 15. November 2016 (Große Kammer), Rdnr. 131 bis 134.
[21] Vgl. dazu nachstehend.
[22] BGBl. Nr. 52/1991 idF BGBl. I Nr. 194/1999; letzte Änderung BGBl. I Nr. 120/2016.
[23] Kumulationsprinzip: WKÖ für Aufhebung von Schikanen, wirtschaft.tirol, gepostet am 18. April 2018; …Kumulationsprinzip: Reform ändert nichts an harten Strafen für schwarze Schafe, vom 4. Juni 2018; https://news.wko.at/news/oesterreich/Kumulationsprinzip:-Reform…
[24] Pechar, B. Kumulationsprinzip. Leitl zieht gegen unverhältnismäßige Strafen ins Feld, Wiener Zeitung Online, vom 29. Oktober 2015.
[25] 100 Vergehen, eine Strafe, ögb newsletter; www.at – 100 Vergehe…
[26] „Ohrfeige für ehrliche Firmen“. Der Wegfall des Kumulationsprinzips bei Verwaltungsstrafen macht Sozialbetrug lukrativer; https://kurier.at/wirtschaft/ohrfeige-fuer-ehrliche-firmen/400034977
[27] Vgl. Schön, R. Wirtschaft gegen Kumulationsprinzip im Verwaltungsstrafrecht; https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20151029_OTS0146/wi…
[28] Bundesgesetz, mit dem das Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen 2008, das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz 1991, das Verwaltungsstrafgesetz 1991 und das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz geändert werden; 193 der Blg.Sten.Prot.NR XXVI.GP.
[29] Vgl. Pallinger, J. Zehn Vergehen, eine Strafe, Der Standard vom 4. Juni 2018, S. 11.
[30] BGBl. Nr. 66/1966.
[31] Siehe Fn. 22.