1. Einführung
Seit Mitte September 2023 liegt der Bericht der „Deutsch-Französischen Arbeitsgruppe zu institutionellen Reformen der EU“ vor, der bereits unmittelbar nach seinem Erscheinen großes Interesse hervorgerufen hat. Darin schlägt eine Gruppe von 12 Experten institutionelle Reformen auf der Ebene des Europäischen Parlaments, des Rates und der Europäischen Kommission vor, um die EU bis 2030 entsprechend „erweiterungsfähig“ zu machen, zugleich aber auch, um die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit weiter zu vertiefen. Die EU muss sich zum einen auf die geplante Erweiterung um bis zu acht bzw. zehn Staaten[1] vorbereiten, und zum anderen ihre Rechtsstaatlichkeit, demokratische Legitimation und Handlungsfähigkeit stärken, bevor es zum Beitritt neuer Mitglieder kommt, da in einer erweiterten Union institutionelle Reformen noch schwieriger durchzuführen wären, als in der gegenwärtigen EU. Es wäre aber auch zu überlegen, ob es „in extremis“ nicht zu einer abgestuften Integration in Form eines „Europa mehrerer Geschwindigkeiten“ kommen sollte, um damit sicherzustellen, dass die gesamte EU nicht durch Störmanöver oder Blockaden einzelner Mitgliedstaaten in ihrem Fortgang behindert oder gar beschlussunfähig gemacht wird.
Dass die theoretische Erörterung dieser wichtigen konzeptiven Weichenstellungen einer deutsch-französischen Arbeitsgruppe anvertraut wurde, belegt einmal mehr, wie bedeutend die Politik der beiden wichtigsten Mitgliedstaaten der EU und deren Zusammenarbeit für die Weiterentwicklung der europäischen Integration nach wie vor ist. Aus diesem Grunde soll im Anschluss an die Kurzdarstellung der Vorschläge und Anregungen der deutsch-französischen Arbeitsgruppe ein kurzer Blick auf die historische Entwicklung der deutsch-französischen Kooperation in Europa nach dem II. WK geworfen werden, um damit zu dokumentieren, wie dominant diese Zusammenarbeit für den Beginn und die Weiterentwicklung der europäischen Integration gewesen ist und auch weiterhin wohl bleiben wird.
2. Die „Deutsch-Französische Arbeitsgruppe über die institutionelle Reform der EU“ und deren Vorschläge
2.1. Die „Konferenz zur Zukunft Europas“
Nach der erstmaligen Ankündigung durch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Herbst 2019, eine „Konferenz zur Zukunft Europas“ zu veranstalten, unterzeichneten am 10. März 2021 der Präsident des Europäischen Parlaments, David Sassoli, der Premierminister Portugals, António Costa – im Namen des Rates der EU – und die Präsidentin der Kommission, Ursula von der Leyen, die „Gemeinsame Erklärung zur Konferenz zur Zukunft Europas“.[2]
Das darin enthaltene Versprechen war vordergründig einfach: Alle Europäerinnen und Europäer sollten, im Rahmen eines an die Bürgerinnen und Bürger gerichteten Prozesses mit einem basisdemokratischen Ansatz, die Gelegenheit erhalten, ihre Erwartungen an die Europäische Union vorzutragen und damit eine größere Rolle bei der Gestaltung der Zukunft der Union zu spielen. Diese Aufgabe war im Grunde aber eine echte Herausforderung: Zum ersten Mal wurde ein länderübergreifender, mehrsprachiger und institutionenübergreifender Prozess der offenen Demokratie im Rahmen von – europäischen und nationalen – Bürgerforen organisiert, an dem tausende europäische Bürgerinnen und Bürger, sowie politische Akteure, Sozialpartner, Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft und wichtige sonstige Interessenträger teilnehmen sollten.
Die Konferenz erhielt einen gemeinsamen Vorsitz, der von einem Exekutivausschuss unterstützt wurde, der die Organisation der Konferenz beaufsichtigte und zu dessen Unterstützung ein gemeinsames Sekretariat eingerichtet wurde. Die Plenarversammlung der Konferenz wiederum hatte sicherzustellen, dass die nach Themen geordneten Empfehlungen aus den nationalen Bürgerforen entsprechend erörtert wurden. Dazu wurden neun thematische Arbeitsgruppen eingesetzt, die Beiträge zur Vorbereitung der Debatten und der Vorschläge des Plenums zu liefern hatten.
Am 9. Mai 2022 schloss die Konferenz nach monatelangen, intensiven Beratungen ihre Arbeit ab und legte den drei EU-Organen Kommission, Rat und Parlament ihren Bericht über das endgültige Ergebnis ihrer Bemühungen vor. Dieser Bericht enthielt insgesamt 49 Vorschläge – mit 320 detaillierten Anregungen – die die Erwartungen der europäischen Bürgerinnen und Bürger zur Ausgestaltung von neun Themenbereichen widerspiegeln.[3]
Ein Blick auf die Ergebnisse der Zukunftskonferenz zeichnet ein differenziertes Bild – von Bürgerinnen und Bürgern, die von der EU erwarten, in den großen Transformationsprojekten Verantwortung zu übernehmen, die fordern, dass die EU transparenter wird, und die Vertragsänderungen nur als Mittel zum Zweck für eine handlungsfähigere Union ansehen. Der Konferenz ist jedoch nicht gelungen, Befürworter und Gegner von Vertragsänderungen einander näherzubringen. Potential hierfür hat aber die wiederbelebte Debatte über Vertiefung und Erweiterung.
Trotz der Überschattung der Zukunftskonferenz durch die Covid-19-Pandemie und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine lassen sich aus dem Prozess und dem Abschlussbericht vier Schlussfolgerungen ziehen, die für die Debatte über die Reform der EU zentral sind: Zum einen erwarten die Bürgerinnen und Bürger von der EU, dass sie mehr Verantwortung übernehmen, geeint in der Welt auftreten und mit ihrer Regulierungsmacht und Wirtschaftspolitik die großen Transformationsprojekte „Green Deal“ und Digitalisierung vorantreiben soll. Zum anderen zeigte die Zukunftskonferenz auf, dass das Modell transeuropäisch und repräsentativ zusammengesetzter Bürgerforen eine echte europäische Debatte schaffen und wertvolle Impulse geben kann. Des Weiteren ist der Versuch aber als gescheitert anzusehen, die Frage nach Vertragsänderungen offenzulassen und diese weder explizit in das Mandat der Zukunftskonferenz einzufügen, noch auszuschließen. Zuletzt ist aber auch die (geo)strategische Ausrichtung der Union mehr oder weniger offengelassen worden, da lediglich festgehalten wurde, dass eine neue Erweiterungsrunde nur mit Vertragsreformen und vertiefter Integration, zB in Form von mehr qualifizierten Mehrheitsentscheidungen[4], möglich ist.[5]
2.2. Die „Deutsch-Französische Arbeitsgruppe über die institutionelle Reform der EU“
Auf der Basis der Erkenntnisse der „Konferenz über die Zukunft Europas“ wurde in der Folge, am 23. Jänner 2023, anlässlich des 60. Jahrestages des „Élysée-Vertrags“ (1963) und des deutsch-französischen Ministerrats, von der französischen Staatssekretärin für Europaangelegenheiten, Laurence Boone, und der deutschen Staatsministerin für Europa und Klima, Anna Lührmann, die „Deutsch-Französische Arbeitsgruppe zu institutionellen Reformen der EU“ eingesetzt, die aus zwölf Nichtregierungs-Expertinnen und Experten besteht (sog. „Gruppe der Zwölf“)[6], die Vorschläge zur Reform der EU, der Rechtsstaatlichkeit und der EU-Erweiterung ausarbeiten sollen. Das Mandat für die Arbeitsgruppe wurde, wie folgt, festgelegt: „Wie kann die EU erweiterungsbereit gemacht werden, während dabei gleichzeitig ihre Handlungsfähigkeit erhöht, die Rechtsstaatlichkeit geschützt, die Demokratie gestärkt und die grundlegenden europäischen Werte erhalten werden“?
Bei der Ausarbeitung der Studie sollte es explizit nicht um die Erstellung einer offiziellen Regierungsposition, sondern darum gehen, Ideen für die anstehende Debatte zu liefern, wie die EU fit für die Erweiterung gemacht werden kann und entsprechende Impulse dafür gesetzt werden können. Dementsprechend spiegeln die Ansichten und Empfehlungen der unabhängigen Sachverständigen nicht notwendigerweise diejenigen der deutschen und französischen Regierung wider.
Nach einer intensiven Beratungstätigkeit im Umfang von knapp acht Monaten konnte die “Gruppe der Zwölf” ihren Abschlussbericht unter dem Titel „Sailing on High Seas: Reforming and Enlarging the EU for the 21th Century”[7] fertigstellen, der in der Folge am 19. September 2023, am Rande des Rats für Allgemeine Angelegenheiten, den EU-Mitgliedstaaten in Brüssel vorgestellt wurde. Anlässlich der Übergabe des Berichts an den Ratsvorsitz erklärte die deutsche Staatsministerin Anna Lührmann: „Die EU muss ihre Handlungsfähigkeit verbessern, vor allem mit Blick auf den Beitritt neuer Mitglieder. Dafür bietet der Bericht wertvolle Impulse. Er enthält ambitionierte sowie pragmatische Reformvorschläge. Einige davon können wir ohne Vertragsänderungen umsetzen, etwa die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik. Der Bericht betont richtigerweise die Notwendigkeit, dass wir auch die Rechtsstaatlichkeit stärker schützen müssen. EU-Erweiterung und EU-Reformen müssen Hand in Hand gehen“.[8] Anschließend sollen nunmehr, in aller Kürze, die wichtigsten Ergebnisse der Arbeitsgruppe dargestellt werden.
2.3. Inhaltsanalytische Aufbereitung der Ergebnisse der deutsch-französischen Arbeitsgruppe
Der Bericht unterstreicht zunächst die Notwendigkeit, die Funktionsfähigkeit der EU kurzfristig, ohne Vertragsänderung, zu verbessern und schlägt diesbezüglich eine erste Phase von Oktober 2023 bis zur nächsten Europawahl im Juni 2024 vor. Reformen, die Vertragsänderungen erfordern, sollten im nächsten institutionellen Zyklus, nämlich der zehnten Wahlperiode des Europäischen Parlaments (2024 – 2029), in Angriff genommen werden. Um ihre Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen, sollte sich die EU das Ziel setzen, bis 2030 für die Erweiterung bereit zu sein, und die Beitrittskandidaten sollten intensiv daran arbeiten, die Kriterien für den Beitritt zur Union zu diesem frühestmöglichen Beitrittstermin zu erfüllen.
Die Empfehlungen des Berichts sind auf drei Ziele hin ausgerichtet: die Handlungsfähigkeit der EU zu erhöhen, die EU bereit für Erweiterungen zu machen und die Rechtsstaatlichkeit und demokratische Legitimität der EU zu stärken. Dementsprechend gliedert sich der Bericht auch in folgende drei Hauptteile:
(a) Rechtsstaatlichkeit,
(b) institutionelle Reformen und
(c) Verfahren zur Reform, Vertiefung und Erweiterung.
Ad (a) Was den Schutz der Rechtsstaatlichkeit betrifft, so enthält der Bericht eine Reihe von Vorschlägen, wie zB den Haushalts-Konditionalitätsmechanismus[9] für die Rechtsstaatlichkeit[10] umzuwidmen und ihn zu einem Instrument zur Sanktionierung von Verletzungen der Rechtstaatlichkeit und generell von systematischen Verletzungen der in Art. 2 EUV verankerten europäischen Werte oder von Grundrechten zu machen. Da eine solche Änderung aber eine andere Rechtsgrundlage erfordern würde, könnte diese von Art. 352 AEUV geliefert werden, was allerdings Einstimmigkeit im Rat erfordern würde. Es wäre daher besser, Art. 7 EUV zu ändern und diesem einen Abs. 6 anzufügen, durch den der Rat und das Parlament ermächtigt würden, im Einklang mit dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren iSv Art. 294 AEUV, Verordnungen anzunehmen, die darauf abzielen, die Grundwerte der EU zu schützen. Sollte dies aber nicht möglich sein, könnte man den Anwendungsbereich der Haushaltskonditionalitäts-Verordnung auf andere Verhaltensweisen ausweiten, die sich negativ auf das solide Finanzmanagement des EU-Haushalts auswirken, wie zB die Bekämpfung der Geldwäsche. Dafür wäre keine Vertragsänderung erforderlich, da die derzeitige Rechtsgrundlage, nämlich Art. 322 AEUV, angewendet werden könnte, es müsste nur die Haushaltskonditionalitäts-Verordnung (2022/2092) im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 294 AEUV entsprechend geändert werden.
Daneben soll das Sanktionsverfahren gem. Art. 7 EUV operationell verbessert werden. Erstens sollte diesbezüglich Art. 7 Abs. 2 EUV geändert werden, um die „Einstimmigkeit minus 1“ durch eine Vierfünftel-Mehrheit im Europäischen Rat zu ersetzen. Zweitens sollte das Prinzip der automatischen Reaktion im Fall einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der Werte der EU durch einen Mitgliedstaat, oder der Gefahr einer solchen, gestärkt werden. Art. 7 Abs. 1 und 2 EUV könnten zur Einführung einer Frist von sechs Monaten geändert werden, um den Rat und den Europäischen Rat zu zwingen, Position zu beziehen. Zudem sollte Art. 7 EUV automatische Sanktionen für den Fall vorsehen, dass der Rat auch fünf Jahre nach der im Einklang mit Art. 7 Abs. 2 EUV erforderlichen Erklärung des Europäischen Rates, nicht darüber abgestimmt hat, ob Sanktionen verhängt werden sollen, oder nicht.
Letztendlich kann die EU nicht ohne Gegenseitigkeit, gegenseitiges Vertrauen und das Bekenntnis aller ihrer Mitglieder zu den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit funktionieren. Das impliziert aber, dass ab einer bestimmten Dauer und Schwere der Verstöße Länder nicht länger EU-Mitgliedstaten mit vollen Rechten bleiben können. Dementsprechend sollten diese keinen Zugang zu Finanzmitteln und Stimmrechten im Rat haben und auch nur eingeschränkt an der Binnenmarktpolitik teilnehmen können.
Ad (b) Im Bericht werden fünf Bereiche identifiziert, die alle von entscheidender Bedeutung für die Erreichung der drei festgelegten Reformziele sind. Die dafür notwendigen institutionellen Reformen lassen sich wie folgt aufgliedern:
– Was das Europäische Parlament betrifft, so ist gem. Art. 14 Abs. 2 UAbs. 2 EUV für die Entscheidung über die Größe und Zusammensetzung des Parlaments ein Vorschlag des Parlaments und ein einstimmiger Beschluss des Europäischen Rates erforderlich, sodass eine Reform ohne Vertragsänderung möglich wäre. Diesbezüglich empfiehlt der Bericht aber, bei der Begrenzung der Zahl der Abgeordneten auf 751, oder weniger Mitglieder, zu bleiben. Des Weiteren schlägt er die Annahme eines neuen Systems der Sitzverteilung auf der Grundlage einer mathematischen Formel (der sog. „Cambridge-Formel“)[11] vor, was auch die Verhandlungen über die Begrenzung der Gesamtzahl der Sitze erleichtern würde.
– Bezüglich des Rates schlägt der Bericht vor, dass der Vorsitz des Rates, nach einer Erweiterung der EU, in zweierlei Hinsicht reformiert werden soll. Erstens sollte das bisherige „Trio-Format“ auf ein Quintett von fünf Vorsitzen ausgeweitet werden, von denen sich jeder über einen halben institutionellen Zyklus erstreckt. Ein solcher „Fünfer-Vorsitz“ hätte auch den Vorteil, dass dieser mindestens einen größeren EU-Mitgliedstaat mit umfassenderen administrativen Kapazitäten umfassen würde, wodurch die horizontalen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten verstärkt werden würden.
Es sollten aber auch die Abstimmungsregeln im Rat reformiert werden. Heute werden die meisten Beschlüsse im Rat, vor allem im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 294 AEUV, mit qualifizierter Mehrheit gefasst. Dabei werden durchschnittlich über 80 % dieser Beschlüsse im Rat durch Konsens gefasst, das heißt ohne Gegenstimmen. Im Zuge von Erweiterungen der EU sollte die qualifizierte Mehrheit bei der Beschlussfassung in allen verbleibenden politisch-inhaltlichen Entscheidungen die Einstimmigkeit ablösen, die lediglich für einige wenige Materien bestehen bleiben sollte.
Die Entscheidung für eine allgemeine Anwendung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen sollte idealiter im Vorfeld einer Erweiterung durch die sog. „Passerelle-Klausel“ („Brücken-Klausel“) getroffen werden. Die Anwendung einer „Passerelle-Klausel“ bedeutet, dass die EU-Verträge dafür nicht formell geändert werden müssten. Diesbezüglich führt Art. 48 Abs. 7 EUV die Möglichkeit zweier Arten von „Passerelle-Klauseln“ ein, um eine Änderung des ursprünglich vorgesehenen Gesetzgebungsverfahrens ohne Vertragsänderung zu ermöglichen.
Dabei sind die allgemeinen und die speziellen „Passerelle-Klauseln“ zu unterscheiden:
– Die erste Art der allgemeinen „Passerelle-Klauseln“ besteht darin, dass die Entscheidungsfindung im Rat von der einstimmigen Entscheidung auf eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit umgestellt wird. Sie gilt für Gesetzesvorlagen, bei denen der AEUV oder Titel V EUV (auswärtiges Handeln und GASP) vorsieht, dass der Rat einstimmig handeln sollte. Dabei sind aber Beschlüsse mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen ausgeschlossen.
– Die zweite Konstellation, in der eine allgemeine „Passerelle-Klausel“ vorliegt, besteht darin, dass Rechtsakte im Rahmen des besonderen Gesetzgebungsverfahrens gem. Art. 289 Abs. 2 AEUV durch das Europäische Parlament mit Beteiligung des Rates oder durch den Rat mit Beteiligung des Europäischen Parlaments angenommen werden müssen. Hier würde die „Passerelle-Klausel“ einen Wechsel vom besonderen zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zur Folge haben.
– Die Zuständigkeitsbereiche der EU ändern sich in keinem dieser Fälle. Nach Erhalt der Mitteilung des Europäischen Rates, dass eine allgemeine „Passerelle-Klausel“ vorgeschlagen wird, haben die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten sechs Monate Zeit, um ein Veto einzulegen. Darüber hinaus muss die Mehrheit der Mitglieder des Parlaments der Anwendung der „Passerelle-Klausel“ zustimmen. Nur dann kann der Europäische Rat einstimmig eine „Passerelle-Klausel“ jeder Art genehmigen.
– Was die speziellen „Passerelle-Klauseln“ betrifft, so sehen die Verträge vor, dass diese für folgende sechs spezifische Politikbereiche gelten: GASP (Art. 31 Abs. 3 EUV); Familienrecht mit grenzüberschreitenden Bezügen (Art. 81 Abs. 3 AEUV); Sozialpolitik (Art. 153 Abs. 2 AEUV); Umweltpolitik (Art. 192 Abs. 2 AEUV); mehrjähriger Finanzrahmen (Art. 312 Abs. 2 AEUV) und verstärkte Zusammenarbeit (Art. 333 AEUV). In den ersten vier Fällen entscheidet der Rat über die „Passerelle-Klausel“, während in den letzten beiden Fällen der Europäische Rat entscheidet.[12]
– Bezüglich der Kommission diskutiert der Bericht zwei Optionen, nämlich zum einen eine Verkleinerung des Kollegiums und zum anderen die Einführung einer Hierarchie innerhalb des Kollegiums: Auf der Basis von Art. 17 Abs. 5 EUV wäre ein einfacher Beschluss des Europäischen Rates ausreichend, um das bisher nicht eingeführte „Rotationssystem“ einzuführen und die Größe des Kollegiums auf eine Anzahl von Mitgliedern zu reduzieren, die zwei Dritteln der Zahl der Mitgliedstaaten entspricht.
Da ein solcher Beschluss des Europäischen Rates zur Umsetzung des Rotationssystems unwahrscheinlich ist – jeder Mitgliedstaat beharrte bisher darauf, in der Kommission vertreten zu sein – empfiehlt der Bericht, nach einer Erweiterung der EU, eine Hierarchie innerhalb des Kollegiums einzuführen, und eine klare hierarchische Abgrenzung zwischen „leitenden Kommissionsmitgliedern“ und (bloßen) „Kommissionsmitgliedern“ vorzunehmen. Eine Hälfte des Kollegiums bestünde demnach aus leitenden Kommissionsmitgliedern, die andere aus entsprechenden Kommissionsmitgliedern in nicht-leitender Funktion. Jeweils ein leitendes Kommissionsmitglied und ein (einfaches) Kommissionsmitglied würden „im Tandem“ für einen Zuständigkeitsbereich verantwortlich sein. Diesbezüglich könnte auch ein Rollentausch nach einer halben Wahlperiode – also nach zweieinhalb Jahren – vorgesehen werden.
Ad (c) Was die Vertiefung und Erweiterung der EU betrifft, so erörtert der Bericht sechs Optionen für eine Änderung der Gründungsverträge. Zunächst wäre dabei an eine Einberufung eines Konvents mit anschließender Regierungskonferenz iSv Art. 48 Abs. 1 EUV zu denken, was auch eine logische Fortsetzung der vorerwähnten „Konferenz zur Zukunft Europas“ darstellen würde. Wird über die Einberufung eines Konvents keine Einigung erzielt, dann wäre das „vereinfachte Änderungsverfahren“ iSv Art. 48 Abs. 3 EUV die nächste Alternative. Die EU-Reform könnte formal aber auch an die Beitrittsabkommen zukünftiger Mitgliedstaaten gekoppelt werden, mit denen die Gründungsverträge gem. Art. 49 EUV geändert werden. Dabei ist aber zu bedenken, dass diese Möglichkeit der Vertragsänderung prinzipiell auf „die durch eine Aufnahme erforderlich werdenden Anpassungen der Verträge“ beschränkt ist.
Zur Überwindung dieser Probleme schlägt der Bericht einen „gestaffelten Ansatz“ vor, bei dem zunächst die Mitgliedstaaten einen, von den Beitrittsabkommen getrennten, Rahmen- oder Mantelvertrag über Erweiterung und Reform ausarbeiten, in dem diejenigen Änderungen enthalten wären, die für die künftige Funktionsweise der EU als notwendig erachtet würden. Es könnte aber auch ein Konvent im Rahmen einer Reform auf der Grundlage von Art. 49 EUV (Erweiterungsvertrag) damit beauftragt werden, einen solchen Rahmen- oder Mantelvertrag für Erweiterung und Reform auszuarbeiten.
Zur Überwindung der bei der Ratifikation dieser beiden Verträge, die einer „doppelten Einstimmigkeit“ unterliegen, zu erwartenden Blockaden schlägt der Bericht als sechste Option den Abschluss eines zusätzlichen, ergänzenden Reformvertrags – etwa nach dem Modell des Vertrags zur Einrichtung des „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM-Vertrag)[13] – zwischen denjenigen Mitgliedstaaten, die voranschreiten wollen, vor. Durch einen solchen Zusatzvertrag käme es allerdings zu einer „Coalition of the Willing“, die de facto ein „Kerneuropa“ darstellen würde.
Für eine Differenzierung innerhalb der EU empfiehlt der Bericht folgende fünf Grundsätze: Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstands sowie der Integrität der Politikfelder und des Handelns der EU; Nutzung der EU-Institutionen und -Instrumente (Verstärkte Zusammenarbeit, Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, Opt-Out-Regelungen auf Vertragsgrundlage uam); Offenheit für alle EU-Mitglieder; Teilung der Entscheidungsgewalt sowie von Kosten und Nutzen und zuletzt Sicherstellung, dass die Willigen voranschreiten können (samt Mechanismus des Ausschlusses von Abweichlern aus der Kerngruppe).
2.4. Abschließende Empfehlung
Nicht alle europäischen Staaten werden willens und/oder in der Lage sein, in absehbarer Zeit der EU beizutreten. Sogar einige aktuelle Mitgliedstaaten könnten losere Formen der Integration bevorzugen. Aus diesen Gründen empfiehlt der Bericht abschließend, die Zukunft der europäischen Integration in vier separaten Dimensionen – anschaulich in Form von konzentrischen Kreisen dargestellt – zu betrachten, wobei jede ein unterschiedliches Profil in Bezug auf Rechte und Pflichten besitzt.
- Der vertiefte innere Kreis: Intern nehmen die Mitglieder des Euro-Raums und des Schengen Raums bereits jetzt an Formen tieferer Integration teil. Darüber hinaus werden die „Verstärkte Zusammenarbeit“ gem. Art. 20 EUV iVm Art. 326 ff. AEUV und die „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ (PESCO)[14] Art. 42 Abs. 6 EUV[15] bereits mehrfach genutzt. Solche „Koalitionen der Willigen“ könnten in einer größeren Vielfalt von Politikbereichen, wie zB Klima, Energie, Besteuerung uam, weiter zum Tragen kommen. Dieser innere Kreis sollte den vorstehend erwähnten fünf Grundsätzen verpflichtet sein.
- Die Europäische Union (EU): Alle aktuellen und zukünftigen Mitgliedstaaten der EU sind an dieselben politischen Ziele gebunden und müssen die Rechtsstaats-Vorgaben des Art. 2 EUV einhalten. Die gegenwärtigen Zuständigkeiten der EU stehen nach wie vor im Zentrum der europäischen Integration.
- Assoziierte Mitglieder: Assoziierte Mitglieder, in der Regel auf der Basis von Art. 217 AEUV, müssen nicht das Prinzip eines „immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker“ (in der Präambel des AEUV) und das einer weitergehenden wirtschaftlichen und tieferen politischen Integration befolgen. Grundvoraussetzung wäre dennoch die Verpflichtung zur Einhaltung der gemeinsamen Grundsätze und Werte der EU, einschließlich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Der Kernbereich der Teilnahme wäre der Binnenmarkt. Die jeweiligen Formen der Assoziierung können ganz verschieden ausgestaltet sein, wie zB mit den EWR-Ländern[16], der Schweiz[17], oder sogar mit dem Vereinigten Königreich.[18]
- Eine weiterentwickelte „Europäische Politische Gemeinschaft“ (EPG): In der vor kurzem, nämlich am 6. Oktober 2022, gegründeten EPG[19] gibt es keine Integration auf der Basis eines verbindlichen Unionsrecht oder spezifische Rechtsstaatlichkeitsanforderungen, ebenso wenig wie einen Zugang zum Binnenmarkt. Der Schwerpunkt in der EPG liegt auf geopolitischer Konvergenz und Zusammenarbeit in Politikbereichen, wie zB Sicherheit, Energie, Umwelt und Klima, wobei die wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb der EPG mithilfe von Freihandelsabkommen strukturiert werden könnten. In einigen Politikbereichen, wie zB Energie oder Verteidigung, könnte ein gemischter Vertrag einen institutionellen Rahmen für eine politische Koordinierung schaffen, ganz ähnlich, wie zB bei der „Europäischen Energieunion“.
Nach diesem komprimierten Auszug aus dem Bericht der „Deutsch-Französischen Arbeitsgruppe zu institutionellen Reformen der EU“ soll anschließend eine kurze historische Darstellung der deutsch-französischen Zusammenarbeit gegeben werden, die sowohl für die Gründung, als auch für die weitere Ausgestaltung der europäischen Integration von essentieller Bedeutung gewesen ist.
3. Beginn und Entwicklung der deutsch-französischen Zusammenarbeit
3.1. Auf bilateraler Ebene
Nach dem Ende des II. WK 1945 schien eine Versöhnung der erbitterten Feinde Frankreich und Deutschland, zwischen denen allein zwischen 1870 und 1945, drei blutige Kriege stattgefunden hatten (1870, 1914 und 1940), zunächst unvorstellbar. Trotzdem kam es, nur fünf Jahre später, am 9. Mai 1950, zur Vorlage des Schuman-Adenauer-Plans, im Gefolge dessen 1951 die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS) als erste der drei Europäischen Gemeinschaften gegründet wurde, der 1957 die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) nachfolgte. Beide Integrationszonen wurden in Erwartung eines neofunktionalistischen „spill over“ – von der wirtschaftlichen auf die politische Ebene –gegründet, der sich auch überraschend schnell einstellen sollte.
So kam es, lediglich fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des EWG-Vertrages – auf Vermittlung Konrad Adenauers und Charles de Gaulle – am 23. Jänner 1963 zur Unterzeichnung des „Élysée-Vertrages“, der nicht umsonst in der Begründung für die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU am 10. Dezember 2012 ausdrücklich positiv erwähnt wurde.[20] Er errichtete zugleich aber auch die „deutsch-französische Achse“, den wichtigsten Impulsgeber für die europäische Integration.[21]
56 Jahre später schließen beide Staaten am 22. Jänner 2019 neuerlich einen Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration („Vertrag von Aachen“), der auf den Grundlagen des „Élysée-Vertrages“ aufbaut und die durch diesen bereits erreichten Errungenschaften vertiefen soll. Im Gegensatz zum „Élysée-Vertrag“, der ein „Instrument der Versöhnung“ darstellte, geht es beim „Vertrag von Aachen“, laut dem französischen Staatspräsidenten Macron, aber um einen „Vertrag der Konvergenz“.[22] Der „Élysée-Vertrag“ wurde nur ein einziges Mal durch zwei Protokolle ergänzt, die am 22. Jänner 1988, zum 25-jährigen Bestehen des Vertrages, unterzeichnet wurden und deren geistige Väter Bundeskanzler Helmut Kohl und Präsident Francois Mitterand waren. Zum einen handelte es sich dabei um das Protokoll über den „Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat“ und zum anderen um das Protokoll zum „Deutsch-Französischen Finanz- und Wirtschaftsrat“.
Im Gefolge der deutschen Wiedervereinigung 1989/1990, die die Bundesrepublik zur eindeutig stärksten Wirtschaftsmacht in Europa erstarken ließ, geriet der deutsch-französische Motor aber ins Stottern und musste neu angeworfen werden. Dies geschah durch den Abschluss des sog. „Blaesheim-Abkommens“ am 31. Jänner 2001, in dem ua informelle Zusammenkünfte des deutschen Bundeskanzlers mit dem französischen Staatspräsidenten – in unregelmäßigen Abständen – vereinbart wurden. Das erste Treffen fand am 31. Jänner 2001 statt und in der Folge traf man sich alle sechs bis acht Wochen, wobei die Zusammenkünfte in kleinstem Kreis und ohne feste Tagesordnung abgehalten wurden.
In der Gemeinsamen Erklärung zum 40-jährigen Jubiläum der Unterzeichnung des „Élysée-Vertrages“ vom 22. Jänner 2003 wurde beschlossen, die seit 1963 halbjährlich stattfindenden Regierungskonsultationen künftig in Form von gemeinsamen Ministerräten abzuhalten. Dementsprechend tagte in der Folge auch zum ersten Mal ein gemeinsamer „Deutsch-Französischer Ministerrat“ – der im Frühjahr und im Herbst, abwechselnd in Deutschland und in Frankreich stattfindet – der durch eine gemeinsame Sitzung des deutschen Bundestages mit der Französischen Nationalversammlung flankiert wurde.[23]
Am 22. Jänner 2013, anlässlich der 50-Jahr-Feier der Unterzeichnung des „Élysée-Vertrages“, fand im Reichstagsgebäude zum zweiten Mal eine gemeinsame Sitzung der Französischen Nationalversammlung und des deutschen Bundestages statt, in der es erstmals auch eine einstündige Aussprache der Abgeordneten gegeben hat, was ein weltweit singuläres Ereignis darstellte.[24]
Aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Schwächung der politischen Position der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und der anhaltenden Proteste der „Gelbwesten-Bewegung“ („gilets jaunes“) in Frankreich, die Präsident Emmanuel Macron sehr behinderten, kam es vorübergehend zu einem Stocken der bisher intensiven deutsch-französischen Zusammenarbeit, die erst im Jänner 2019 durch den Abschluss des vorerwähnten „Vertrages von Aachen“ wieder intensiviert werden konnte. Der „Vertrag von Aachen“ versteht sich gem. seinem Art. 27 expressis verbis als „Ergänzung“ des „Élysée-Vertrages“ – der seine volle Geltung weiter behält – und enthält dementsprechend eine Reihe weiterer Kooperationsvorschläge auf den Gebieten der Verteidigung, Sicherheit, Rüstung, Wirtschaft, Umwelt und Kultur.[25]
3.2. Auf trilateraler Ebene: Das „Weimarer Dreieck“
Neben der vorstehend erwähnten bilateralen Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich existierte aber noch eine trilaterale Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Staaten und Polen in Form des sog. „Weimarer Dreieck“, die aber mit der Einleitung des „Vor Artikel 7 EUV-Verfahrens“ der Europäischen Kommission gegen Polen am 13. Januar 2016 – nach einer 25 jährigen Zusammenarbeit – ihr Ende fand.[26]
Am 28./29. August 1991 trafen sich die damaligen Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens – Hans-Dietrich Genscher, Roland Dumas und Krzysztof Skubiszewski – an Goethes Geburtstag in Weimar (dem Sterbeort Goethes), um das „Weimarer Dreieck“ ins Leben zu rufen. In einer 10-Punkte-Erklärung bekräftigten die Minister die damalige maßgebliche Verantwortung der drei Staaten für den europäischen Integrationsprozess.
Hinsichtlich der Gründung des außenpolitischen Formats des „Weimarer Dreieck“ hatte jeder der drei Mitgliedsstaaten unterschiedliche Erwartungshaltungen. Diesbezüglich erklärte Deutschland die Osterweiterung der Europäischen Gemeinschaften (EG) bzw. der Europäischen Union (EU) zu einer seiner vorrangigen europapolitischen Zielsetzungen und versuchte dazu, sowohl Frankreich als Bundesgenossen zu gewinnen, als auch den Beitritt Polens zur EU zu forcieren. Frankreich wiederum wollte nach der deutschen Wiedervereinigung, die, wie vorstehend erwähnt, zu einer wirtschaftlich dominanten Bundesrepublik in der EU geführt hatte, die bisher auf der Basis des vorerwähnten „Élysée-Vertrags“ bilateral geführten Gespräche trilateralisieren, um damit die Dominanz der Bundesrepublik entsprechend zu relativieren. Polen seinerseits wollte, neben der Bundesrepublik, die an seinem Beitritt zur EU ohnehin interessiert war, mit Frankreich einen weiteren wichtigen Fürsprecher für seine Beitrittsambitionen gewinnen. Das „Weimarer Dreieck“ sollte Polen die singuläre Chance eröffnen, sich mit der Bundesrepublik und Frankreich „auf Augenhöhe“ zu treffen und zu verhandeln.
Was die institutionelle Ausgestaltung des „Weimarer Dreieck“ betrifft, so beschlossen die Außenminister „zukünftig einmal im Jahr – oder wenn es die Lage in Europa erfordert – zu einem zusätzlichen Treffen zusammenzukommen“. Damit wurde aber, expressis verbis, nur die Ebene der Außenminister, nicht aber die der Staats- und Regierungschefs sowie der sonstigen, jeweils zuständigen, Ressortminister angesprochen. In der Folge kam es aber, ganz pragmatisch, sowohl zu mehreren Treffen der Staats- und Regierungschefs des „Weimarer Dreiecks“, als auch zu Zusammenkünften der Verteidigungs- und Europaminister. Zuletzt wurde die Kooperation im Rahmen des „Weimarer Dreiecks“ aber auch auf die Parlamente der drei Mitgliedstaaten[27] und ausgewählte Zivilgesellschaften – wozu am 27. August 2010 auch der Verein „Weimarer Dreieck e.V.“ gegründet wurde – ausgedehnt. Der Austausch der Zivilgesellschaften fand vorrangig in Form von Städtepartnerschaften, Jugendbegegnungen oder Kulturveranstaltungen statt.
Sichtbar wurde das östliche Engagement des „Weimarer Dreiecks“ vor allem in den früheren Krisen- und Konfliktsituationen, wie zB während der sog. „orangen“ Revolution in der Ukraine (2004/2005), der russischen Embargopolitik gegenüber der Ukraine (Gasembargo) und Polen (Getreide- und Fleischembargo), im Georgienkrieg 2008, im Gefolge der militärischen Annexion der Krim durch Russland (März 2014), in der Überwachung der Durchführung der Waffenstillstands- bzw. Friedensabkommen von Minsk I (5. September 2014) und Minsk II (12. Februar 2015), in Bezug auf die Befriedung der Ostukraine, uam.[28]
Ganz allgemein ist zum „Weimarer Dreieck“ aber anzumerken, dass es im Gegensatz zum vertieften Bilateralismus auf der Basis des „Élysée-Vertrages“, lediglich ein trilaterales Konsultations- und Kooperationsverhältnis, aufgrund überlappender Interessenslagen seiner Partner, darstellt.
Zuletzt trafen sich BK Olaf Scholz, Präsident Emmanuel Macron und Präsident Andrzej Duda am 13. Juni 2023 in Paris, wobei BK Scholz ua erklärte, „dass man gemeinsam die Ukraine in ihrer Verteidigung gegen die russische Aggression weiterhin unterstützen werde – politisch, humanitär, finanziell und auch mit Waffen. Wir tun das, so lange wie es nötig sein wird. Das haben wir drei der Ukraine und dem ukrainischen Präsidenten Selenskji unabhängig voneinander versichert“.[29]
3.3. Auf vierseitiger Ebene: Das „Normandie-Format“
Das „Weimarer Dreieck“ steht bei der Lösung der Ukraine-Krise mit einem anderen Format außenpolitisch in Konkurrenz, mit dem es aber weder institutionell, noch materiell, abgestimmt ist, nämlich dem sog. „Normandie-Format“. Dieses hat seinen Ursprung in den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie (6. Juni 1944) im Jahre 2014, zu denen auch der russische und der ukrainische Präsident eingeladen waren und anlässlich derer die unterbrochenen Gespräche zwischen Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine wieder aufgenommen wurden. Das „Normandie-Quartett“ machte es sich ua zur Aufgabe, die durch die Intervention Russlands in der Ostukraine und die militärische Annexion der Krim (2014) hervorgerufenen Spannungen abzubauen und eine entsprechende Friedenslösung auf der Basis des vorerwähnten Minsker-Abkommen (II) (2015) vorzubereiten, was allerdings misslang.
[1] Albanien, Bosnien & Herzegowina, Moldau, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, Türkei (Beitrittsverhandlungen sistiert), Ukraine; dazu kommen die Bewerberstaaten bzw. potentiellen Beitrittskandidaten Kosovo und Georgien.
[2] Rat, Dok. 6796/21, vom 5. März 2021.
[3] Konferenz zur Zukunft Europas. Bericht über das endgültige Ergebnis, Mai 2022, S. 45 – 101.
[4] https://eur-lex.europa.eu/DE/legal-content/glossary/qualified-majority.html
[5] Vgl. Von Ondarza, N. – Ålander, M. Von der Zukunftskonferenz zur Reform der EU, SWP-Aktuell Nr. 44, Juli 2022.
[6] Die Mitglieder der Arbeitsgruppe und deren berufliche Tätigkeit sind im nachstehenden englischsprachigen Bericht (Fn. 7) auf S. 58 angeführt.
[7] Politico (Hrsg.), Report of the Franco-German Working Group on EU Institutional Reform, Paris-Berlin – 18 September 2023, 58 Seiten; vor kurzem erschien auch eine deutsche Übersetzung bei Politico mit dem Titel „Unterwegs auf hoher See: Die EU für das 21. Jahrhundert reformieren und erweitern“, Berlin-Paris – 18. September 2023, 67 Seiten.
[8] Fit für die Zukunft? Deutsch-französische Gruppe stellt Ideen für EU-Reformen vor, Auswärtiges Amt, Artikel vom 19. 09.2023.
[9] Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 des EP und des Rates vom 16. Dezember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union (ABl. 2020, L 433I, S. 1 ff.).
[10] Erstmals Ende April 2022 gegen Ungarn eingeleitet; vgl. dazu Hummer, W. Die „Konditionalitätsregelung“ zum Schutz des Haushalts der EU vor Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, EuZ 7/2022, S. 11 ff.
[11] Europäisches Parlament/Generaldirektion interne Politikbereiche, Die Zuteilung der Sitze im Europäischen Parlament an die EU-Mitgliedstaaten – Der Cambridge-Kompromiss, PE 432.760.
[12] https://eur-lex.europa.eu/DE/legal-content/glossary/passerelle-clauses.html
[13] BGBl. III Nr. 138/2012 idF BGBl. III Nr. 93/2023.
[14] Vgl. Hummer, W. Die erstmalige Einrichtung einer „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (PESCO) im Sicherheits- und Verteidigungsbereich durch 23 Mitgliedstaaten der EU – und zwar unter Teilnahme des dauernd neutralen Österreichs, EU-Infothek vom 27. November 2017, S. 1 ff.; Hummer, W. Wie hängen der „Strategische Kompass“, der „Europäische Verteidigungsfonds“, die „GSVP-Missionen“ und „PESCO“ zusammen?, EU-Infothek vom 30. November 2021, S. 1 ff.
[15] Vgl. den Beschluss (GASP) 2017/2315 des Rates vom 11. Dezember 2017 über die Begründung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) und über die Liste der daran teilnehmenden Mitgliedstaaten (ABl. 2017, L 331, S. 57 ff.).
[16] Vgl. Hummer, W. Der EWR aus europarechtlicher Perspektive, in: ecolex 7/1992, S. 515 ff.
[17] Vgl. Hummer, W. Integrationspolitische Alternativen der Schweiz, in: Zeitschrift für Europarecht (EuZ) 6/2012, S. 128 ff.; Hummer, W. Die Schweiz am integrationspolitischen Scheideweg – Neuer Bilateralismus, Rahmenabkommen, EWR II oder EU-Beitritt?, in: Schwind/Hoyer/Ofner (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre ZfRV (2013), S. 71 ff.
[18] Vgl. Hummer, W. Der „Brexit“ und seine Auswirkungen auf die EU, in: Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 5 (2021), S. 1 ff. und die „Politische Erklärung der EU und des UK zu ihren zukünftigen Beziehungen“, vom 30. Jänner 2020 (S. 557 ff.).
[19] Der Vorschlag für die Gründung der EPG geht auf Emmanuel Macron zurück, der diesen im Mai 2022 erstmals lancierte.
[20] Vgl. Hummer, W. Verdient die Europäische Union den Friedensnobelpreis?, EU-Infothek vom 23. Oktober 2012.
[21] Vgl. Hummer, W. Grundlage der „deutsch-französischen Achse“. 50 Jahre deutsch-französischer Zusammenarbeits-Vertrag („Élysée-Vertrag“), EU-Infothek vom 22. Jänner 2013.
[22] Zitiert nach Mühlauer, A. – Wernicke, C. Du willst es doch auch, Süddeutsche Zeitung, vom 23. Januar 2019, S. 3.
[23] Vgl. Hummer, W. Vom „Elysée-Vertrag (1963) zum „Vertrag von Aachen“ (2019) – 56 Jahre deutsch-französische Freundschaft und Partnerschaft, EU-Infothek vom 4. Februar 2019, S. 1 ff.
[24] Vgl. Burgert, J. Élysée-Vertrag – Wiedersehen in Berlin, Das Parlament Nr. 01-03- 2013, vom 2. Januar 2013.
[25] Hummer, Vom „Elysée-Vertrag (1963) zum „Vertrag von Aachen“ (2019) (Fn. 23).
[26] Vgl. Hummer, W. Versetzt Polen dem „Weimarer Dreieck“ den Todesstoß? Konsequenzen der Einleitung eines „Vor Artikel 7-Verfahrens“ gegen Polen, Europäische Rundschau 2016/1, S. 41 ff.
[27] Neben den drei Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten bzw -präsidien, treffen sich auch einzelne Fachausschüsse in diesem trilateralen Format; vgl. Auswärtiges Amt, Weimarer Dreieck: 30 Jahre grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, vom 4. März 2022, S. 2.
[28] Hummer, Versetzt Polen dem „Weimarer Dreieck“ den Todesstoß? (Fn. 26).
[29] Weimarer Dreieck: „Geschlossenheit ist unsere Stärke“ (13. Juni 2023), S. 1.