Mans Zelmerlöw hat beim pompösen Eurovision Song Contest in der Wiener Stadthalle eine riesige Sensation verhindert: Statt des schwedischen Top-Favoriten hätte nämlich beinahe die Russin Polina Gagarina mit ihrem „Weltverbesserer-Schmachtfetzen“ (Copyright: „Stern“), einer Art Friedenshymne, gewonnen. Auch wenn die strohblonde 27-Jährige während des Votings von den 10.000 Zuschauern unnötiger Weise kräftig ausgebuht wurde, ist das Motto der durchaus gelungenen Veranstaltung – „Building Bridges“ – voll aufgegangen.
An diesem Abend wurden jedenfalls viele Brücken gebaut – nach Russland. Die Ballade „A Million Voices“ erhielt nicht weniger als 303 Punkte und wurde von fast allen 40 Teilnehmerländern geradezu enthusiastisch bewertet. Selbst aus Ländern wie Estland, Lettland oder Moldavien, die dem östlichen Nachbarn sehr skeptisch gegenüberstehen, kam begeisterte Zustimmung, auch die Juroren in Deutschland, Australien oder Ungarn zeigten sich beeindruckt, und aus Österreich kamen eight points. Das war alles in allem angesichts der politischen Ereignisse in jüngster Zeit überraschend, aber schließlich ging es nicht um die Ukraine, die Krim oder die Sanktionen, sondern um Polina Gagarina und ihren musikalischen Beitrag.
Jetzt ist Putin an der Reihe
Sie stand auf der Bühne – nicht Wladimir Putin. Der Kreml-Boss wird wohl daheim vor dem TV-Schirm gesessen sein und sich riesig gefreut haben. Beim vorjährigen Song Contest in Kopenhagen wurde der Auftritt Russlands noch mit gellenden Pfeifkonzerten quittiert – die Politik spielt eben auch bei diesem musikalischen Großereignis stets eine gar nicht so untergeordnete Rolle. Heuer hingegen war plötzlich alles eitel Wonne und Waschtrog – und das wird dem ebenso machtbewussten wie eitlen Präsidenten, der Topevents wie die Olympischen Spiele in Sotschi eiskalt zu propagandistischen Zwecken zu nutzen pflegt, immens taugen.
Jetzt weiß Putin nicht nur, dass er sich auf Nachbarländer wie Georgien, denen er schon viel angetan hat, immer noch verlassen kann sondern dass offenbar auch in Westeuropa nicht lauter Monster sitzen, die Russland allzeit Böses antun möchten, am liebsten ignorieren. So gesehen ist der zweite Platz von Polina Gagarina nicht zuletzt auch ein politisches Signal, dass sich die aufgeheizten Gemüter in dieser krisengeschüttelten Welt allmählich wieder etwas abregen sollten.
So merkwürdig das auch klingen mag, doch der Wiener Song Contest 2015 hat wahrscheinlich mehr zu einer Entspannung und Deeskalation beitragen als so manches Gipfelgespräch aus West- und Ostpolitikern in jüngster Zeit. Putin darf diesen Abend durchaus als persönlichen Triumph verbuchen: Er sollte daher rasch zur Einsicht gelangen, dass er und sein Land nicht von allen Seiten ausgegrenzt, gehasst oder gar bedroht werden – sondern dass für ihn viele Brücken gebaut wurden, die er nunmehr überqueren kann. Folglich müsste der Kreml-Boss so rasch wie möglich konkrete Taten setzen um zu demonstrieren, dass der Traum vom Frieden, vom dem der russische Beitrag handelt, kein blanker Zynismus bleibt und er selbst nicht ewig für eine aggressive, autoritäre und menschenverachtende Politik steht. Der Ukraine, die heuer aus finanziellen Gründen am Song Contest nicht teilgenommen hat, würde das besonders nützen.
PS: Dass heuer ausgerechnet nach Österreich keine Brücken gebaut wurden, sollte man gelassen sehen. Es ist zwar absurd, dass der Beitrag der Makemakes – für Patrioten der beste des Abends – keinen einzigen Punkt erhielt, doch was soll‘s… Der ORF hat dafür ein Mega-Event für 200 Millionen Menschen hingezaubert. Gratulation!