Spanien hat gewählt – und erneut kam es zu einem mittleren politischen Erdbeben: Am Sonntag wurde das traditionelle Zwei-Parteien-System nach drei Jahrzehnten ruckartig beendet. Die bislang regierende Partido Popular (PP) unter dem angeschlagenen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy hat eine brutale Niederlage ausgefasst und ihren Stimmenanteil von zuletzt 45 auf kaum 29 Prozent minimiert.
Die oppositionelle sozialistische Arbeiterpartei PSOE unter Generalsekretär Pedro Sanchez konnte sich zwar mit dem schlechtesten Ergebnis aller Zeiten – bloß 22 Prozent – gerade noch auf Platz Zwei behaupten, ist aber Lichtjahre von ihrer glänzenden Vergangenheit – etwa mit dem seinerzeitigen Premier Felipe Gonzáles – entfernt.
Es war eindeutig ein Sonntag der Protestwähler, die mit dem alten System abrechnen wollten: Und so konnte der erst 37-jährige Politologe Pablo Iglesias mit seiner linken, seit Jänner 2014 aktiven Anti-Establishment-Partei Podemos (auf deutsch: „Wir können“) und fast 21 Prozent der Stimmen die dritte Position erobern. Der noch eine Spur jüngere Anwalt Albert Rivera, der erstmals mit der rechtsliberalen Partei Ciudadanos ins Rennen gegangen war, sicherte sich mit einem Anteil von rund 14 Prozent der Wählerstimmen Platz Vier. Die beiden Wahlsieger, die für vollkommen verschiedene Programme stehen, haben zwar ihr primäres Ziel – die spanische Politik grundlegend umzugestalten – klar verfehlt, doch dem Land letztlich eine riesige Misere beschert: Denn für Regierungschef Rajoy wird es nahezu unmöglich sein, ein tragfähiges Kabinett zu formen. Mit der primär in Betracht kommenden Ciudadanos geht es sich mandatsmäßig nicht aus, und die beiden Linksparteien kommen inhaltsmäßig nicht in Betracht. Iglesias wird – umgekehrt betrachtet – nach menschlichem Ermessen die konservative PP eben so wenig unterstützen wie die geschwächten Sozialisten, und die neue liberale Gruppierung verabscheut alles Linke ohnedies wie der Teufel das Weihwasser. Rivera schloß bereits vor der Wahl ein Bündnis mit der PSOE kategorisch aus, offensichtlich will er auch für Rajoy nicht einmal theoretisch den Steigbügelhalter spielen.
Auf Spanien kommen also stürmische Wochen, vielleicht sogar hektische Monate, zu – und es scheint gar nicht so sicher, ob es dann so wie in Portugal, wo die Konservativen im Oktober ebenfalls gewonnen, doch die Absolute verloren haben, zu einer Einigung kommen kann. Denn so vergleichsweise einfach wie die Machtübernahme im Nachbarland – der neue sozialistische Premier António Costa, der das Kabinett von Passos Coelho ablöste, führt nunmehr eine Minderheitsregierung – , so simpel wird es in Spanien vermutlich nicht laufen. Eine Regierung ohne Mehrheit im Parlament steuert nämlich immer, geradezu automatisch, in eine ungewisse Zukunft – und das sollte sich Madrid tunlichst ersparen. Fix ist: Sofern es nach wochenlangen Verhandlungen keine Koalition gäbe, sind Neuwahlen fällig, was die etwa von den Finanzmärkten erwartete Stabilität im Lande ziemlich beeinträchtigen würde.
Der nicht spürbare Aufschwung
Mariano Rajoy, dem 2011 trotz der wirtschaftlichen Kalamitäten ein Erdrutschsieg gelungen ist, stand stets für einen rigiden Sparkurs und ließ sich dabei nicht einmal von einem Generalstreik beirren. Sein eingeschlagener Kurs war zwar brutal, was zahllose Bürger getroffen hat, in die Armut abdriften ließ und massenweise zu Auswanderungen führte, doch er war nicht erfolglos: Spanien konnte immerhin bereits 2013 den berühmt-berüchtigten Rettungsschirm verlassen und allmählich wieder auf eigenen Beinen Fortschritte anpeilen. Die spanische Wirtschaft wuchs etwa im dritten Quartal, wie das Statistikamt Eurostat bestätigt, mit 0,8 Prozent stärker als der Mittelwert der EU-Mitgliedsstaaten. Von diesem leichten Aufschwung bekamen die Wählerinnen und Wähler jedoch so gut wie nichts mit. Denn die leicht sinkende Arbeitslosenrate beispielsweise liegt noch immer bei mehr als 20 Prozent – womit derzeit über vier Millionen Menschen ohne Arbeit sind, Bei den Jugendlichen hat sogar praktisch jeder Zweite keinen Job. Es nützte Rajoy folglich herzlich wenig, dass er in letzter Minute vor der Wahl noch zwei Millionen neue Arbeitsplätze bis 2020 sowie diverse Steuersenkungen versprach. Seine miesen Umfragewerte haben freilich zu einem beträchtlichen Teil mit den Korruptions- respektive Schmiergeldskandalen zu tun, die seine Partei immer wieder ins Visier der Medien gebracht und viel Glaubwürdigkeit gekostet haben.
Jetzt, wo Konservative und Arbeiterpartei zusammen nicht mehr über fast 84 Prozent der Stimmen, wie 2008, verfügen, sondern nur noch über rund 50 Prozent, ist der aktivistische Anführer der selbsternannten Partei zur Rettung Spaniens fest entschlossen, alles in Frage zu stellen: Universitätsprofessor und Podemos-Chef Pablo Iglesias, ein Mann vom Zuschnitt des Griechen Alexis Tsipras, nützt den riesigen Unmut in der Bevölkerung seit Monaten geschickt aus, indem er unter tosendem Applaus seiner Fans das Ende der Sparpolitik verspricht. Er will die Reichen wie auch Unternehmensgewinne stärker besteuern und dafür ärmeren Familien mehr finanzielle Hilfe angedeihen lassen. Die linke Podemos, die ein Spiegelbild der griechischen Syriza sein könnte, hatte allerdings das Pech, dass sie die Protestwähler schlussendlich mit einem liberalen Rivalen teilen musste – die früheren Ambitionen, den Regierungschef zu stellen, sind damit ad acta gelegt.
Die ohnmächtigen Protestler
Der Mann, der Iglesias im letzten Moment austrickste, hätte sich aber ebenfalls mehr erwartet: Albert Rivera, Galionsfigur der rechtsliberalen Bürgerplattform Ciudadanos, wird nämlich mit lediglich 40 Mandaten in den Kongress einziehen und dort in der Oppositionsrolle verweilen müssen. Der Anwalt, der schon jahrelang gegen die Unabhängigkeit Kataloniens und damit für die Einheit Spaniens gekämpft hatte, tritt für eine wirtschaftsfreundliche, aber vor allem für eine saubere Politik ein, ohne Korruption und ohne Privilegien. Rivera will zum Beispiel die aufgeblähte Verwaltung straffen, die Steuern senken und die bisherige Austeritätspolitik lockern, wenn auch nur gemäßigt. Ähnlich wie Iglesias ist er vor allem glücklich darüber, den beiden seit Ende der Franco-Diktatur dominierenden Großparteien, die seines Erachtens die derzeitige Wirtschaftsmisere zu verantworten hätten, einen Denkzettel verpasst zu haben.
Allerdings: Mehr ist vorerst für die beiden Protestgruppieren nicht drin. Die Kräfteverhältnisse im Madrider Parlament sehen so aus, dass Rajos konservative PP mit künftig 123 Abgeordneten einen Partner benötigt, um 176 der insgesamt 350 Mandate zu schaffen. Doch weder die PSOE noch Podemos werden dem Ministerpräsidenten die Freude bereiten, als Juniorpartner in die Regierung zu gehen. Die rote Arbeiterpartei wiederum würde zwecks Mehrheitsbeschaffung sowohl Iglesias als auch Rivera benötigen – was ebenso unwahrscheinlich sein sollte. Fazit; Spanien ist nach dem Volksentscheid vom 20. Dezember unregierbar geworden.