Falls Sie es noch nicht gemacht haben, sollten wir jetzt auf die Schottinnen und Schotten einen feinen Scotch Whisky, natürlich on the rocks, heben: Sie haben beim Referendum am letzten Donnerstag mehrheitlich bewiesen, dass sie noch alle Tassen im Schrank haben. Die nordischen Inselbewohner, die wir hiermit hochleben lassen wollen, haben Großbritannien erhalten und damit Kleinbritannien verhindert.
[[image1]]Jetzt darf sich die Queen wieder so richtig freuen, obwohl die schottischen Nationalisten sie auch im Fall der Unabhängigkeit behalten hätten; David Cameron kann endlich wieder ohne gröbere Alpträume durchschlafen, selbst wenn auf ihn stürmische Zeiten zukommen und er den Schotten noch etliche Zugeständnisse wird machen müssen; und am Kontinent herrscht EU-weit sowieso Jubelstimmung, weil sich Brüssel eine Menge Zores erspart hat und alles beim alten bleiben kann. Fein sein, beinander bleiben – das ist halt doch noch die allerbeste Devise. Das eindeutige NO zur Abspaltung von London darf aber auch als Warnschuss an alle separatistischen Tendenzen verstanden werden, die in Europa für mulmige Gefühle sorgen – allen voran an die frustrierten Katalanen, die zum Teil von Spanien die Nase voll haben und es künftig lieber im Alleingang versuchen möchten. Das überraschend klare Votum der Schotten sei „eine gute Nachricht für uns alle, die seit Jahrzehnten am Aufbau Europas teilnehmen“, strahlte der für die Europäische Union zuständige Staatssekretär Spaniens, Inigo Mendez de Vigo.
Mit dem Verbleib im Vereinigten Königreich haben sich die Schotten jedenfalls eine Menge Probleme erspart: Andernfalls wäre ihre Wirtschaft massiv erschüttert worden, weil beispielsweise die Banken abwandern hätten müssen – Schottland hat ja keine eigene Nationalbank und keine Einlagensicherung. Viele Milliarden Pfund sind aus Sicherheitsgründen vor dem Tag X bereits abgeflossen, die britische Währung ist schon vorab abgesackt, um sich nach dem positiven Entscheid sogleich wieder zu erholen. Investitionen wären in einem unabhängigen Schottland ausgeblieben, die Exporte in den Süden der Insel eingebrochen, die Ängste um Arbeitsplätze enorm gewachsen, die Preise hätten steigen müssen, und der Verbleib im EU-Verband wäre alles andere als ausgemachte Sache gewesen. Die Horrorvorstellung einer drohenden Isolation total brachte die Schotten jedoch offenbar zur Vernunft.
Jetzt ist freilich London gefordert: War die Region im Norden bislang in vielerlei Hinsicht lediglich als Nebensache betrachtet worden, was den Zorn der dortigen Nationalisten auf das „Establishment“ in der Hauptstadt automatisch ins Unermessliche treiben musste, so wird sich die konservativ-liberale Koalition nunmehr sehr anstrengen müssen, die vielen Versprechungen von David Cameron im Parlament auch zügig umzusetzen. Die Autonomierechte, was etwa Steuern, Gesundheitsfragen und Wohlfahrt anlangt, müssen erheblich ausgebaut werden. Und falls das nicht rasch, nämlich wie versprochen bis Ende Jänner 2015, gelingt, werden die durchaus erzürnten Schotten mit Sicherheit nicht klein beigeben, sondern schon bald erneut den Aufstand proben. Das zentralistische Machtsystem in der Finanzmetropole London, die sich als Nabel der Welt zu betrachten pflegt, steht also auf dem Prüfstand, umso mehr als auch Nordiren und Waliser mehr Autonomie und mehr Mitspracherechte, kurzum: mehr Föderalismus und damit natürlich auch mehr Geld einfordern. Der Zeitdruck ist gewaltig: Schon im Mai 2015 stehen in Großbritannien Unterhauswahlen an. Der konservative, imagemäßig längst angezählte Regierungschef wird nur dann vielleicht im Spiel bleiben, wenn er es tatsächlich schafft, Großbritannien in Windeseile konstitutionell umzumodeln.
Mit vertauschten Rollen
Cameron hat nunmehr am eigenen Leib verspürt, wie unliebsam ein Konflikt mit aufmüpfigen Partnern so sein kann. Die schottischen Separatisten haben nämlich einen Part gespielt, der ihm als notorischem EU-Querulanten gar nicht so fremd ist. Cameron gilt bekanntlich innerhalb der Union seit geraumer Zeit als personifizierter Spaltpilz, der mit diversen Drohgebärden immer wieder für europaweiten Stress sorgt. Ob es das von ihm für Ende 2017 in Aussicht gestellte Referendum über die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs geben wird, ist zwar fraglich, denn die Chancen des britischen Premiers, bis dahin an der Macht zu bleiben, stehen angesichts seiner am Tiefpunkt angelangten Popularitätswerte und seiner bisherigen Performance ganz, ganz schlecht. Sollte Labour im nächsten Jahr wieder das Kommando übernehmen, wird es wohl keine Abstimmung über einen Austritt geben. Doch sofern die EU-feindlichen Rechtspopulisten der UKIP (United Kingdom Independence Party) ihren Siegeszug fortsetzen, dann wäre nicht auszuschließen, dass das Land tatsächlich umkippt und Europa den Rücken zuwendet.
David Cameron bzw. sein Nachfolger könnten jedenfalls von der „friedlichen Revolution“ (Copyright: „Frankfurter Allgemeine“) der schottischen Unabhängigkeitsfanatiker einiges lernen: Ein NO zur EU würde dem Königreich nämlich extreme Nachteile bescheren und massiven Schaden zufügen. Die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Konsequenzen wären nämlich noch um einiges unkalkulierbarer und die Auswirkungen auf die weiterhin notwendige Integration Europas noch viel katastrophaler als im Fall Schottland. Die bekanntermaßen ziemlich selbstherrlichen Briten müssten sich folglich – sofern sie g‘scheit sind und ein Debakel verhindern wollen – mit der Kernfrage befassen, was ihnen durch einen EU-Austritt alles an negativen Folgen blühen würde. Und sobald sie das alles fein säuberlich aufgelistet haben, sollten sie doch zur weisen Erkenntnis gelangen, dass ein Plan B weitaus intelligenter wäre und ihnen mehr Vorteile brächte: Ähnlich wie sich die aufgebrachten Nationalisten Schottlands nunmehr beschwichtigen lassen, könnte auch Großbritannien Brüssel zunächst einmal einige Zugeständnisse abringen um letztlich doch an Bord der Union zu bleiben. Cameron hat ja schon mehrmals präzise formuliert, worauf es ihm ankäme: Er möchte zum Beispiel, dass der Einfluss der EU-Kommission auf die nationalen Regierungen begrenzt wird, dass unerwünschte EU-Gesetze nicht automatisch in Kraft treten müssen, dass es keine allzu große und seines Erachtens unnötige Einflussnahme der EU-Institutionen auf die britische Justiz geben solle und so weiter und so fort. Bei künftigen Verhandlungen müsste die Einsicht, dass politische und wirtschaftliche Stabilität in stürmischen Zeiten unerlässlich sind, beiderseits eine zentrale Rolle spielen. Was dabei letztlich raus kommen mag, wird sich zeigen.
Die Union sollte sich allerdings von Großbritannien nicht erpressen lassen. Sofern die Briten den übrigen 27 Mitgliedsländern unerfüllbare Forderungen aufs Auge drücken möchten, um den geliebten Sonderstatus noch weiter einzuzementieren, müsste sie Brüssel wohl oder übel von dannen ziehen lassen. Eine Scheidung tut – das wissen ja unzählige gescheiterte Ehepaare genauso – fast immer weh, aber man muss daran nicht unbedingt zu Grunde gehen. Die Europäische Union würde ohne Großbritannien – und Schottland – sicherlich auch überleben …