Mit der Schulden- und Finanzkrise in Europa ist auch die Rolle der Ratingagenturen, welche die Bonität von Staaten bewerten, in den Fokus gerückt. Torsten Hinrichs, Geschäftsführer von Standard & Poor’s in Frankfurt, nimmt im EU-Infothek-Interview zu Kritik an den Länderratings Stellung.
[[image1]]Die Ratingagenturen mussten im Zusammenhang mit der Finanzkrise in Europa viel Kritik einstecken. So wurde etwa argumentiert, dass bei den europäischen Staaten aus politischen Gründen strengere Maßstäbe angelegt wurden als etwa bei den USA. Was sagen Sie dazu?
Wir sind bei der Vergabe unserer Länderratings politisch vollkommen neutral und waren dies auch in der Vergangenheit. Wir bewerten in unserer Analyse lediglich, wie es um die Zahlungsfähigkeit des jeweiligen Schuldners bestellt ist. Dabei wirken sich einzelne Maßnahmen, insbesondere der Politik, natürlich auf die Zahlungsfähigkeit aus. So waren Herabstufungen verschiedener europäischer Staaten gerade in den letzten Jahren häufig auch durch die finanzielle Schieflage ihrer Banken begründet, die systemisch wichtig für den Staat sind und die daher gerettet wurden. Dies sind aber keine Maßnahmen, die wir beschließen oder gar fordern, dafür ist die Politik zuständig. Die USA behandeln wir dabei nach genau denselben Ratingkriterien wie auch alle anderen 127 Länder weltweit, für die wir ein Rating erstellen. Es sollte nicht übersehen werden, dass wir das Rating der USA bereits 2011 ebenfalls gesenkt haben, was uns heftige Kritik eingebracht hat.
Kritiker der Ratingagenturen argumentieren, dass durch die massive Herabstufung von Krisenländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien die Lage dort erst eskaliert ist?
Dieser Vorwurf entbehrt natürlich jeglicher Grundlage. Man sollte nicht ignorieren, worin die Ursachen für die finanziellen Schwierigkeiten dieser und anderer Länder in der Vergangenheit und Gegenwart begründet lagen, und wie damit umgegangen wurde. Mit dem Vorwurf wird auch verkannt, dass die Finanzmärkte nicht nur auf Analysen aller Art reagieren, sondern auch sehr stark von Emotionen geprägt sind und dass Investitionsentscheidungen bei weitem nicht nur auf Ratings basieren, sondern von einer Vielzahl von Einflüssen geprägt sind. So hat S&P beispielsweise schon im Jahr 2004 mit einer Herabstufung Griechenlands auf Probleme hingewiesen, die Finanzmärkte haben dies zur damaligen Zeit aber überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Während der Finanzkrise haben dann die Märkte im Vergleich zu den Veränderungen der Ratings häufig deutlich stärker ausgeschlagen. Ratings sind eben nur ein Faktor von vielen für die Finanzmärkte.
Haben die Ratingagenturen zur Volatilität der Märkte und zur Spekulation beigetragen?
Im Gegenteil, Ratings tragen nachweislich zur Stabilität der Märkte bei. Während Marktpreise häufig sehr stark schwanken, streben wir an, unsere Ratings durch einen Wirtschaftszyklus hindurch relativ stabil zu halten und nicht jedes Auf und Ab mitzumachen. Wir basieren unsere Ratings auf einer Analyse von Fundamentaldaten, nicht kurzfristigen Quartalsergebnissen oder ähnlichen Indikatoren. Ein Rating bringt unsere Meinung über die künftige Fähigkeit eines Schuldners zum Ausdruck, seine Verbindlichkeiten am Kapitalmarkt pünktlich und vollständig zu bedienen – das betrifft Unternehmen genauso wie Staaten. Wenn sich die Situation ändert und wir unsere Meinung über die Zahlungsfähigkeit eines Schuldners ändern, passen wir unsere Ratings an. Dabei versuchen wir, in die Zukunft gerichtet einen Zeithorizont von etwa 12-24 Monaten abzubilden, um beispielsweise auch zu berücksichtigen, dass manche Maßnahmen länger brauchen, um Wirkung zeigen zu können.
Aufgabe einer Ratingagentur ist es, den Finanzmarkt mit aktuellen Einschätzungen über die Kreditwürdigkeit von Schuldnern zu versorgen. Warum unterscheiden sich die Ergebnisse der Bewertungen oftmals so stark?
„Stark“ ist relativ – ich würde dem nicht pauschal zustimmen. Ja, eine gewisse Bandbreite von Ratings ist gegeben, und das ist auch gut so, denn dies spiegelt nur die so häufig geforderte Meinungsvielfalt im Ratingmarkt wider. Unterschiede kommen unter anderem zustande, weil die Analysen auf unterschiedlichen Kriterien basieren und Analysten die einzelnen Faktoren und Entwicklungen unterschiedlich bewerten. Deshalb lohnt sich in jedem Fall ein Blick in die von uns zu jedem Rating vorliegenden Berichte, in denen wir im Detail vollkommen transparent und für jeden zugänglich erläutern, welche Faktoren wir als ausschlaggebend für unsere aktuelle Bewertung anführen und vor allem, von welchen Szenarien wir ausgehen, wenn wir die mögliche Entwicklung eines Ratings aufzeigen.
Geringe Ausfallsquote bei höheren Ratings
Aufgrund welcher Fakten wird die empirische Ausfallswahrscheinlichkeit von Schuldnern berechnet?
Wir erstellen anhand unserer Ratingdaten ausführliche ex-post Statistiken zu tatsächlich beobachteten Zahlungsausfällen, aber auch zu Ratingmigrationen, also den Veränderungen unserer Ratings im Zeitablauf. Häufig spiegelt sich die Konjunktur darin wider, wie sich Ratings nach oben oder nach unten verändern.
Ratings sind in die Zukunft gerichtet und drücken ex-ante keine Ausfallwahrscheinlichkeit in absoluten Zahlen aus, da in schlechteren Zeiten tendenziell mit höheren Ausfallraten zu rechnen ist. Ratings sind vielmehr Meinungsäußerungen über relative Kreditrisiken. Unsere Ausfallstudien lassen im Rückblick genau erkennen, dass höhere Ratings tatsächlich seltener und langsamer ausfallen als niedrigere. Dies bestätigt die hohe Qualität unserer Ratings. In unserer jüngsten Studie ergab sich beispielsweise für ursprünglich „AA“ geratete Emittenten nach 10 Jahren eine Ausfallquote von 0,88% und „A“ geratete Schldner bei 1,65%. Im Vergleich dazu liegen die beobachteten Ausfallraten für „BBB“ geratete Schuldner bei 4,59%, für „BB“ geratete Schuldner bei 15,09%, und für „B“ geratete Schuldner sogar bei 27,84%.
Welchen Anteil an den Bonitätseinstufungen hat die Mathematik und welchen die Meinung der Analysten?
Ein festes Verhältnis zwischen quantitativen und qualitativen Kriterien gibt es nicht. Über die Jahre haben wir ausführliche Kriterien für die Ratinganalyse der unterschiedlichen Schuldner wie Staaten, Gebietskörperschaften, Unternehmen, Banken, Versicherungen, Projektfinanzierungen, Verbriefungen sowie zur Behandlung bestimmter Transaktionen entwickelt und entwickeln diese auch ständig weiter, um mit den Entwicklungen am Kapitalmarkt Schritt zu halten. Dabei fließen sowohl quantitative Aspekte ein wie Finanz- bzw. Haushaltspläne und Jahresberichte, aber auch qualitative Aspekte. Während Zahlen zur Berechnung von Kennzahlen wie etwa im Verhältnis zur Verschuldung genutzt werden, ist die Einschätzung der künftigen Marktposition, die Beurteilung der vorgelegten Geschäftsstrategie, oder die Bewertung von Absatzchancen stärker meinungsgetrieben. Aber auch diese qualitativen Kriterien werden einem sorgfältigen Vergleich mit Wettbewerbern unterzogen, den sog. Peers, um ihre Aussagefähigkeit zu untermauern. Außerdem erfolgt eine Überprüfung im Ratingkomittee, in dem über viele Einzelaspekte separat abgestimmt wird, bevor das eigentliche Rating festgelegt wird. Damit wird sichergestellt, dass die Ratings soweit wie möglich objektiviert werden. Wir sind in den letzten Jahren verstärkt dazu übergegangen, auch die qualitativen und damit subjektiven Aspekte stärker schematisch zu erfassen, um sowohl die Transparenz als auch die Vergleichbarkeit zu erhöhen.
Wie konnte es passieren, dass in der Finanzkrise Ramschpapiere als sichere Geldanlage angepriesen wurden?
Ratings von Standard & Poor’s stellen keinerlei Empfehlungen für Kauf, Halten oder Verkauf von Wertpapieren dar. Wir stellen lediglich unsere Meinung zum Kreditrisiko eines Schuldners zur Verfügung. Die historischen Daten zeigen, dass unsere Ratings in vielen Bereichen wie etwa Länderratings, Unternehmensratings, und Bankratings eine hervorragende Performance vorzuweisen haben. Dies hat sich während der Finanzkrise auch nicht geändert. Allerdings war im Bereich Verbriefungen von US-Wohnungsbauhypotheken, dem sog. RMBS-Bereich, die Entwicklung der Ratings unbefriedigend. Für die überwiegend modellgetriebene Ratinganalyse solcher Verbriefungen werden in großem Umfang Annahmen zugrunde gelegt, die auf die Erfahrungen und Daten der Vergangenheit zurückgreifen und die sich im Nachhinein als nicht haltbar herausgestellt haben. Zwar bestreitet niemand, dass es vorher nicht absehbar war, dass sich die Märkte so schnell und so stark verändern würden. Als Konsequenz hat S&P gleich zu Beginn der Finanzkrise die Annahmen dieser Modelle einer kritischen Überprüfung unterzogen und deutliche Veränderungen daran vorgenommen.
Wie ist das Verhältnis von Staatenratings und Firmenratings und in wie vielen Fällen wird ein Auftrag für die Bewertung erteilt?
Wir haben insgesamt Ratings für 127 Staaten im Markt, davon sind nur etwa ein gutes Dutzend ohne Auftrag, d. h. über 110 Länderratings erstellen wir mit Mandat des Kunden. Im Vergleich dazu haben wir allein in Europa über 700 Unternehmensratings im Markt, diese sind alle von den Unternehmen selbst beauftragt.
Ratings sind keine Anlageempfehlungen
In der EU sind kürzlich strengere Regeln für Ratingagenturen in Kraft getreten. So ist eine Haftung bei Fahrlässigkeit gegenüber Anlegern vorgesehen. Beeinflusst das die Arbeit der Agenturen?
Mit der Regulierung haben sich einige Veränderungen ergeben, die wir im Einzelnen sehr begrüßen. Ein Punkt hat sich hingegen nicht verändert: Investitionsentscheidungen bleiben weiterhin Entscheidungen der Anleger, für die sie selbst Verantwortung übernehmen müssen. Denn Ratings stellen absolut keine Anlageempfehlungen dar.
Die Haftung von Ratingagenturen im Rahmen der Regulierung erstreckt sich darauf, dass wir dafür sorgen müssen, unsere Kriterien und Analyseprozesse sorgfältig und regelgerecht umzusetzen. Dies liegt in unserer Verantwortung und der kommen wir auch selbstverständlich nach.
Befürchten Sie weitere Klagen von Staaten?
Fast alle internationalen Unternehmen müssen sich kontinuierlich mit Klagen unterschiedlicher Art auseinandersetzen. Wir werden uns auch in Zukunft gegen unbegründete Klagen energisch zur Wehr setzen – da machen auch Klagen von Staaten keine Ausnahme.
Was halten Sie von der Idee, eine europäische Ratingagentur zu etablieren?
Grundsätzlich begrüßen wir Wettbewerb auf Augenhöhe. Letzten Endes wird der Markt anhand des Geschäftsmodells und der Qualität und Unabhängigkeit der Ratings relativ schnell entscheiden, ob eine rein europäische Ratingagentur die erforderliche Akzeptanz finden kann. Genaugenommen sind wir allerdings bereits eine europäische Ratingagentur. In den letzten 15 Jahren haben wir bereits ein beachtliches Team von europäischen Analysten aufgebaut – mit über 500 Analysten in sechs europäischen Finanzzentren. Unsere Kunden schätzen es sehr, mit der entsprechenden lokalen Fachkenntnis betreut zu werden. So verfügen wir allein in Frankfurt über ein Team von über 50 deutschsprachigen Analysten.
Wie schätzen Sie die Aussichten für Ihre Branche ein?
Wir haben tausende Ratings für Staaten, Unternehmen, Banken und Versicherungen im Markt, die wir fortlaufend beobachten. Ratings ermöglichen seit über 100 Jahren Staaten und Unternehmen einen effizienteren Zugang zu den globalen Anleihemärkten. Dadurch machen wird Investitionen möglich und erleichtern vielen Unternehmen einen effizienten Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten. So leisten wir einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum und zur Sicherung von Arbeitsplätzen. Als unabhängige Meinung zum relativen Kreditrisiko eines Schuldners schaffen Ratings mehr Transparenz und werden auch in Zukunft von den globalen Investoren als Entscheidungshilfe geschätzt werden.