Der überraschend klare Wahlsieg von Alexis Tsipras auch im zweiten Anlauf begeistert nicht nur seine Anhänger: Auch viele europäische Politiker, internationale Wirtschaftsexperten und gestrenge Medienkommentatoren sind darüber freudig erleichtert. Vor allem die Spitzenleute in Brüssel von Jean-Claude Juncker abwärts, die dem Boss des Radikalen Linksbündnisses Syriza nach dessen Triumph im Jänner noch monströses Misstrauen entgegengebracht hatten, sind zufrieden, dass Tsipras weiterhin ihr Ansprechpartner bleibt.
Der zweifellos sympathische, obendrein charismatische Grieche, der alle früheren Versprechen vergessen hatte, beim Verhandlungsmarathon eingegangen ist, aber seinem Land ein Hilfspaket in Höhe von 86 Milliarden Euro sichern konnte, erhält also, gemeinsam mit dem rechtspopulistischen Koalitionspartner Anel, eine zweite Chance.
Der neue, alte Premierminister, der sich laut eigenen Angaben auf „einen Weg voll Arbeit und Verantwortung“ gefasst macht, hat es „nach einem halben Jahr Achterbahnfahrt“ („Der Standard“) verstanden, das Vertrauen seiner Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen – vermutlich deshalb, weil die Folgen der Sparpolitik noch nicht schmerzlich spürbar sind. Es wird ihm gewiss hoch angerechnet, dass er die früher dominanten Parteien – die konservative Nea Dimokratia und die sozialistische PASOK – in die Bedeutungslosigkeit verdrängen und das alte System – Korruption, Cliquenbildung und alle gängigen Steuerpetite – beenden möchte. Gleichzeitig hat er es geschafft, dass sich die EU-Spitze, deren Nervenkostüm er mit seinem chaotischen Zick-Zack-Kurs wochen-, ja monatelang zu devastieren versucht hat, über seinen Weiterverbleib an der Macht durchaus zu freuen scheint.
Tsipras wird jedenfalls gerade in der turbulenten Phase, in der sich die Europäische Union befindet, einer der wichtigsten Keyplayer am Kontinent sein. Er ist zwar in der komfortablen Lage, dass die genannten Oppositionsparteien den bevorstehenden Spar- und Reformkurs mittragen werden, weshalb die knappe Mehrheit im Parlament kein existenz-bedrohendes Faktum sein dürfte. Dennoch erwartet ihn eine Herkulesaufgabe, weil der Syriza-Chef, parteiintern immer noch von Maoisten und Reformkommunisten umzingelt, schon in Bälde ständig über seinen eigenen Schatten springen und jene Maßnahmen durchsetzen muss, die er in seinem ersten Wahlkampf stets strikt abgelehnt hatte. Angesichts dieser heiklen Mission kann man dem linken Regierungschef – auch wenn man selbst kein eingefleischter Linker ist – bloß die Daumen halten und gutes Gelingen wünschen.
Auf das pleite-bedrohte Land kommt nämlich eine Reihe brutaler Gesetzesbeschlüsse zu, die automatisch u.a. Kürzungen bei der Sozialversicherung und diverse Steuererhöhungen nach sich ziehen werden. Tsipras wird weiters die nötigen Verwaltungs- und Wirtschaftsreformen durchboxen, was so viel bedeutet wie: die darniederliegende Wirtschaft ankurbeln müssen, was bei einem Mann mit seinem Background nicht gerade die Spezialdisziplin ist. Schließlich muss er trotz persönlicher ideologischer Barrieren endlich die geforderten Privatisierungen angehen und das Familiensilber – Airports, Häfen und sonstige staatliche Besitztümer – versilbern. Kurzum: Griechenland komplett auf neue Beine zu stellen – das erfordert einen politischen Salto Mortale ohne Netz – mit höchst ungewissem Ausgang.
Schwierige Meisterprüfung
Sofern man davon ausgeht, dass Tsipras künftig – schlitzohrig, wie er lange agiert hat – nicht weiterhin auf ein Pokerspiel mit den Geldgebern setzt und diese nicht wie in der Vergangenheit an der Nase herumführen möchte, steht ihm eine komplizierte politische Meisterprüfung bevor. Er konnte sich zwar von den radikalen Kritikern in der eigenen Partei befreien, doch die politischen Widerstände werden nicht zu verachten sein: Selbst wenn die abgespaltene „Volkseinheit“ den Sprung ins Parlament letztlich nicht geschafft hat, werden die ehemaligen Weggefährten mit Sicherheit den eingeschlagenen Kurs ähnlich heftig kritisieren und ausschlachten wie die neonazistische Partei „Goldene Morgenröte“ als drittstärkste Partei im Lande und Griechenlands Kommunisten, die auf Platz fünf gelandet sind. Ähnlich populistisch, wie er selbst lange agiert hat, werden diese Regierungsgegner die Unzufriedenheit in der Bevölkerung genussvoll schüren und naturgemäß alle unpopulären Maßnahmen der neuen Regierung anlasten. Auf diese Weise könnte Tsipras seine Glaubwürdigkeit und das Vertrauen seitens der Bevölkerung rasch wieder verlieren und einen enorm schweren Stand haben.
Wie der Spagat gelingen soll, einerseits die Landleute nicht noch mehr in die Armut zu drängen bzw. in die Verzweiflung zu treiben und anderseits die gestrengen Vorgaben der Geldgeber auf Punkt und Beistrich zu erfüllen, das steht vorerst noch in den Sternen. Tsipras, der sich nach wie vor als eine Schutzpatron der sozial Schwachen versteht, wird da und dort sein gesamtes Fingerspitzengefühl und Verhandlungsgeschick aufbieten müssen, um diesen Job halbwegs zufriedenstellend erledigen zu können. Freilich: Faktum ist, dass der derzeitige Schuldenstand der Hellenen zur Stunde rund 180 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung beträgt. Nur ein kleines Wunder könnte Tsipras dabei sehr zur Hilfe kommen: Falls er es im Tauziehen mit den Eurostaaten, für die ein Schuldenschnitt nicht in Frage kommt, zumindest schafft, Fristverlängerungen für die Tilgung der Verbindlichkeiten herauszuholen, dann könnte die Athener Regierung Gelder aus dem Schuldendienst für andere Zwecke verwenden, beispielsweise für Infrastrukturprojekte. Die Vertreter der Eurozone müssten dabei allerdings – wichtigste Voraussetzung – extrem langfristig denken, denn es ginge in Wahrheit um Erleichterungen bei den Rückzahlungen bis nach 2070. Fazit: Griechenland ist und bleibt eine endlose Story, in der Alexis Tsipras lediglich ein verhältnismäßig kleines Kapitel gestalten wird…