Für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan waren die Ereignisse in der Nacht vom 15. auf 16. Juli geradezu ein Glücksfall: Das dilettantische Putscherl ebensolcher Offiziere und Soldaten, das prompt Erdogans in den USA lebendem Erzfeind Fethullah Gülen in die Schuhe geschoben wurde, hat ihm nämlich optimal in die Hände gespielt. Offenbar perfekt auf die internen Widerwärtigkeiten vorbereitet, griff Erdogan als Retter der Nation sogleich mit der ihm eigenen Brutalität durch: Innerhalb weniger Tage wurden fast 70.000 Bürger – Militärs, Polizisten, Richter, Lehrer, Wissenschaftler, Beamte, Journalisten und selbst Unternehmensführer – entlassen, suspendiert bzw. verhaftet und einsperrt, etliche sind sogar ermordet und blitzschnell irgendwo verscharrt worden.
Mit dieser beispiellosen „Säuberungsaktion“, die an sehr dunkle Kapitel der Weltgeschichte erinnert, entledigt sich der Staatschef systematisch seiner Kritiker, die er allesamt als Anhänger des Predigers Gülen ächtet – sogar die Einführung der Todesstrafe wird überlegt. Erdogan nützt den verhängten Ausnahmezustand, um rasch seine jahrelang vorbereitete Mission zu vollenden – sich als Diktator zu installieren, der die Armee, den Geheimdienst, auch die Opposition und damit das gesamte Land fest im Griff haben wird. Auf diese Weise bricht er automatisch mit dem Westen: Die USA sind derzeit auf den Nato-Partner stinksauer, womit der gemeinsame Kampf gegen den so genannten Islamischen Staat (IS) ungewiss werden dürfte. Die Europäische Union geht ebenfalls zusehends auf Distanz zur Türkei, weshalb sich diese die vereinbarte Visafreiheit für türkische Europa-Reisende abschminken darf und auch der monströse Flüchtlingsdeal bereits wieder vor dem Aus steht.
Die wüsten Reaktionen des türkischen Präsidenten in den vergangenen zwei Wochen provozieren automatisch politische Veränderungen: Die Türkei könnte sich nach monatelanger Eiszeit zwischen den beiden Ländern wieder mit Russland verbünden, sich obendrein mit dem Iran arrangieren und schließlich auch ihre Beziehungen zu China, aber auch zu Usbekistan, Kasachstan oder Tadschikistan zu intensivieren. Auf diese Weise muss Erdogan versuchen, die drohenden wirtschaftlichen Probleme, auf die sein Land unweigerlich zusteuert, halbwegs abzufedern. Sein eigener Aufstieg an der Spitze der islamisch-konservativen, nunmehr mit absoluter Mehrheit regierenden AKP hatte nämlich in den letzten 13 Jahren viel mit dem anatolischen Wirtschaftswunder zu tun: Die türkische Wirtschaft wuchs seit 2003 um durchschnittlich 4,8 Prozent und katapultierte sich ins Spitzenfeld der Schwellenländer. Mit der dynamischen Expansion türkischer Konzerne, vor allem im Nahen Osten und Nordafrika, ist das Land einerseits zu einer Art Vorbild für andere muslimische Staaten geworden, anderseits stieg sukzessive der Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten, was der AKP-Führer geschickt auf seine Fahnen zu heften verstand.
Klare Alarmsignale
Was sich in diesen Wochen in der Türkei ereignet, muss allerdings auf die wirtschaftliche Lage einen massiven negativen Effekt haben: So manches deutet darauf hin, dass die Boomphase schlagartig zu Ende sein könnte. Alarmsignale gibt es schon einige:
O Arbeitsmarkt
Im April betrug die Arbeitslosenrate 9,3 Prozent, was 2,8 Millionen Türken ohne Job bedeutet – das war zwar der niedrigste Wert seit einem Jahr, doch in der Altersgruppe der der 15- bis 24-Jährigen hat jeder Sechste keine Arbeit. Überdies sind nicht weniger als 28 Millionen Bürger – von Kleinkindern über Schulbesucher, Hausfrauen bis Pensionisten – nicht in den Arbeitsprozess eingebunden, was eine verdeckte Arbeitslosigkeit in beträchtlichem Ausmaß signalisiert. Sogar das staatliche Statistikamt Turkstat beziffert den Anteil jener Personen, die ohne soziale Absicherung leben müssen, mit 33,5 Prozent – Tendenz steigend.
O Preise
Die Inflationsrate ist im Jahresvergleich um 7,64 Prozent (Stand Juni 2016) gestiegen, wobei die Teuerung bei alkoholischen Getränken und Tabakwaren fast 13 Prozent ausmachte; in den Bereichen Hotels & Restaurants, Gesundheit sowie Möbel und Haushaltswaren war die Steigerung mit nahezu plus 10 Prozent ebenfalls beträchtlich, hingegen sind Bekleidung und Schuhe im vergangenen Jahr um 1,33 Prozent billiger geworden.
O Tourismus
Im Zeitraum April bis Juni 2016 musste die türkische Fremdenverkehrsbranche, die immerhin sieben Prozent aller Arbeitsplätze stellt, einen Umsatzrückgang von 35,6 Prozent auf rund 5 Milliarden Dollar hinnehmen. In diesem Zeitraum sank die Zahl der Touristen im Vergleich zum zweiten Quartal 2015 um 30 Prozent auf 7,5 Millionen. Davon waren 6,3 Millionen ausländische und 1,2 Millionen türkische Urlaubsgäste – letztere sorgten für rund 23 Prozent der Einnahmen. Allein im Juni betrug das Minus schon 41 Prozent, was jedoch ab Juli noch übertroffen werden dürfte.
O Außenhandel
Im ersten Halbjahr 2016 sind die türkischen Exporte um 2,4 Prozent und die Importe gleich um 6,7 Prozent zurückgegangen – daran ändern auch imposante Steigerungsraten im Juni (Export: + 8 %, Import: + 7 %) nichts. Das Handelsbilanzdefizit sank dafür im ersten Halbjahr um 16 Prozent auf rund 28 Milliarden Dollar. Die wichtigsten Exportmärkte der Türkei sind Deutschland, Großbritannien, Italien und die USA – alles in allem betrug der EU-Anteil an den türkischen Ausfuhren im Juni 2016 stolze 48,5 Prozent, rund ein Achtel mehr als im Juni 2015. Bei Importgütern sind die wichtigsten Lieferanten des Landes China, Deutschland, die USA und Russland.
O Immobilien
Im Juni wurden in der Türkei 106.000 Häuser verkauft, vier Prozent weniger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Jedes dritte Objekt war hypothekarisch belastet. Ein starker Rückschlag war bei ausländischen Käufern zu orten, die lediglich 1.543 Domizile erworben haben – um 32 Prozent weniger als im Juni 2015. Für die meisten Deals sorgten Iraker (214), gefolgt von Russen (114) und Saudis (112).
Die genannten Fakten stammen durchwegs von der staatlichen Turkstat und sind folglich mit Vorsicht zu genießen – die Realität könnte nämlich noch weitaus schlimmer aussehen. Skepsis ist vor allem dem jüngst in Ankara veröffentlichten Konsumenten-Vertrauensindex sowie dem Wirtschafts-Vertrauensindex gegenüber angebracht: Diesen frohen Zahlenwerken zufolge soll die derzeitige Stimmung im Lande mit 67 bzw. 95,7 Punkten (Juli 2016) geradezu hervorragend sein, was besonders beim zweiten Index verblüfft. Möglicherweise dürften zahlreiche Befragte noch nicht mitbekommen haben, dass ihre Volkswirtschaft heuer garantiert nicht wie erst vor kurzem prognostiziert um 4,8 Prozent wachsen wird. Internationale Experten rechnen nach dem Putschversuch mit bestenfalls drei Prozent für das laufende und 2,1 Prozent für das nächste Jahr.
Die Türkei, die einen Fixplatz im elitären Zirkel G20 – also den 20 größten Industriestaaten – hat, muss sich darauf gefasst machen, dass ausländisches Kapital, auf das sie bislang dringend angewiesen war, nicht mehr ungebremst herein fließen wird, um das chronische Handels- und Leistungsbilanzdefizit auszugleichen. Auf Grund der ohnedies schon immer fragwürdigen, aber jetzt nochmals geschrumpften Rechtssicherheit werden sich ausländische Investoren weitere Engagements sehr genau überlegen. Die Investitionen werden obendrein auch wegen protektionistischer Maßnahmen der Regierung automatisch zurückgehen, auch der inländische Konsum, bislang einer der Motoren des Wirtschaftsbooms, dürfte sich angesichts der politischen Unsicherheiten rückläufig entwickeln, und die zu erwartende Lira-Abwertung wird obendrein die Inflation weiter anheizen. Das Land, hat die OECD erst kürzlich festgestellt, sei durch „erratische Wechselkursbewegungen“ ohnedies recht „verletzlich“.
Erdogan, der sich bislang auch gerne als Zampano in Wirtschaftsfragen gerierte, sollte sich jedenfalls warm anziehen, nachdem er dafür gesorgt hat, dass vielen kalte Schauer über den Rücken laufen wegen seiner diktatorischen Allüren: Sein Versprechen, dass die Türkei im Jahr 2023 – zum hundertsten Geburtstag der Republik – schon unter den Top Ten der Wirtschaftsgiganten rangieren werde, darf er getrost vergessen. Und stattdessen so richtig zittern: Denn wenn die türkische Wirtschaft tatsächlich massiv abstürzt, könnte das wahrscheinlich – etwas zeitversetzt – dazu führen, dass seine Ära irgendwann zu Ende sein wird…