Von der englischen Punk-Rockband The Clash stammt der Titel, der derzeit für jeden Briten die entscheidende Frage ist: „Should I stay or should I go?“. Am 23. Juni wird ein Referendum im Vereinigten Königreich darüber entscheiden, wie es mit dem Inselstaat und zugleich mit der Europäischen Union weitergeht – auf- oder abwärts?
Vor wenigen Wochen hatte es laut Meinungsforschern noch so ausgesehen, als würde die Mehrheit der rund 46 Millionen Wahlberechtigten für einen Verbleib Großbritanniens in der EU stimmen – was ein Glücksfall für Europa wäre. Nun liegen jedoch Umfrageergebnisse vor, denen zufolge mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger von Brüssel nichts mehr wissen möchte – was wohl gleichermaßen eine Katastrophe für das Königreich und die Union bedeuten könnte.
Die Positionen der politischen Parteien sind – mit Ausnahme der regierenden Conservative Party – relativ klar: Labour Party, Liberaldemokraten und Grüne präferieren einen Verbleib in der EU ebenso wie sämtliche Parteien in Schottland und Wales. Für einen Austritt haben sich hingegen die UK Independence Party sowie – in Nordirland – die Democratic Unionist Party und die Traditional Unionist Party stark gemacht. Das riesige Problem besteht darin, dass justament die Konservativen gespalten sind: Während sich Premier David Cameron zu einem YES durchgerungen hat, beharren beispielsweise vier seiner Minister, Unterhaus-Führer Chris Grayling und der frühere Londoner Bürgermeister Boris Johnson eisern auf einem No.
Die von UKIP-Chef Nigel Farage angeführten EU-Gegner setzten insbesonders auf vier Argumente, die für ein Ausscheiden sprechen würden: Erstens die nötige Kontrolle der eigenen Grenzen – womit weniger Migranten ins Land kämen; zweitens kein Diktat und keine Bevormundung aus Brüssel etwa bei Gesetzen; drittens eine – allerdings bloß erhoffte – Kostenersparnis, weil London als Nettozahler nicht mehr an die neun Milliarden Euro in den gemeinsamen Topf blechen müsste; und viertens geht es ihnen um den Abschluss eigener Handelsabkommen.
Beim alles entscheidenden Referendum dürften jedenfalls vor allem Emotionen und weniger die rationalen Bewertungen von Vor- und Nachteilen der EU-Mitgliedschaft den Ausschlag geben. Die Stimmung in der Bevölkerung ist ziemlich aufgeheizt, doch das ist für das Königreich, das Anfang 1973 der damaligen EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) beitrat, beileibe nichts Neues: Die Briten haben praktisch immer Kritik an den europäischen Institutionen geäußert, vor allem in der Ära von Margaret Thatcher genüsslich ihre Extrawürste gebraten und sich diverse Sonderkonditionen gesichert, und ein Austritt war bereits in den Neunzigerjahren ein Dauerthema. Tony Blair hat zwar eine relativ europafreundliche Strategie verfolgt, doch die Splendid Isolation – etwa ohne Einführung des Euro – blieb bestehen.
Dramatische Folgen
In jüngster Zeit wurde Großbritannien aus allen Himmelsrichtungen – von US-Präsident Barack Obama abwärts – vor einem künftigen Alleingang inständig gewarnt: Die Auswirkungen eines Brexit auf die britische Wirtschaft lägen, sagte beispielsweise die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, „in einer Spanne von ziemlich schlecht bis sehr, sehr schlecht“. Die OECD rechnete in einer Studie vor, dass die britische Wirtschaftskraft in diesem Fall bis 2010 um drei Prozent niedriger wäre als beim Status Quo – das würde für jeden Briten einen Verlust von rund 2.900 Euro ausmachen. Zehn Jahre später, 2030, könnte jeder britische Haushalt schon mit rund 6.500 Euro belastet sein. Auch in London selbst sind seit Monaten die Alarmsirenen unüberhörbar: Finanzminister George Osborne etwa hat angekündigt, dass das Land „auf Dauer ärmer“ werden würde. Notenbank-Gouverneur Mark Carney wiederum rechnet im Worst Case mit einem deutlichen Anstieg der Inflation, einem schweren Rückschlag für die Unternehmen und kann auch eine Rezession nicht ausschließen.
Die zahllosen Nachteile, die ein EU-Austritt dem Land mit hoher Wahrscheinlichkeit brächte, sind in etlichen Studien renommierter Institutionen aufgelistet – doch wer liest die schon? Allein die Kernaussagen, die in den Medien Beachtung finden, müssten jedenfalls ausreichen, um große Teile Bevölkerung in eine Art Schockstarre zu versetzen und zur Vernunft kommen zu lassen. So etwa werden die möglichen finanziellen Schäden allein für die britische Wirtschaft in einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers mit 100 Milliarden Pfund – umgerechnet 128 Milliarden Euro – bis zum Jahr 2020 beziffert. Im genannten Zeitraum könnten 950.000 Arbeitsplätze verloren gehen.
In der Londoner City ist schon längst die Panik ausgebrochen. Sofern Europas führender Finanzplatz von der EU und den dortigen Regeln abgekapselt werden würde, denkt laut Umfragen jede dritte der dort vertretenen Banken daran, ihr Engagement zu reduzieren oder womöglich gänzlich abzuwandern. Laut Schätzungen könnten allein bei den Finanzdienstleistern bis zu 100.000 der derzeit noch 700.000 Jobs wegfallen – davon blieben naturgemäß die in London ansässigen Europa-Headquarters von Größen wie GoldmanSachs, Morgan Stanley oder Bank of America nicht verschont.
Der nächste Keulenschlag: Eine Expertise des renommierten Londoner Forschungsinstituts Oxford Economics kam zum Schluss, dass das britische Inlandsprodukt im Jahr 2030 bei einem Exit im schlimmsten Fall um 3,9 Prozent geringer wäre als bei einem Verbleib in der EU und dass zugleich 30 Milliarden Euro an Investitionen flöten gingen. Ein ähnliches Horrorszenario entwarf die London School of Economics and Political Science, für einen Auftritt als „Sprung ins Ungewisse“ bewertet. Eine Kernfrage wäre zum Beispiel, was mit den drei Millionen EU-Bürgern passiert, die im Königreich leben, und was genau auf die fast zwei Millionen Briten zukommt, die im EU-Raum wohnen.
Zehn Jahre Feilsch-Marathon
Sonnenklar ist indes, dass die britischen Ausfuhren in die EU, die dem Königreich immerhin 50 Prozent aller exportierten Waren und Dienstleistungen abnimmt, stark betroffen wären. Die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft würde schon allein durch neue Zölle leiden, und zugleich würden die ausländischen Investitionen auf der Insel vermutlich beträchtlich schrumpfen. Der Unternehmerverband CBI (Confederation of British Industry‘s) trauert schon jetzt goldenen Zeiten nach: Immerhin wurden bislang von nur vier EU-Staaten – Deutschland, Frankreich, Spanien und Niederlande – stolze 377 Milliarden Pfund auf der Insel investiert, denen 185 Milliarden in die andere Richtung gegenüberstehen.
Die große Frage, welchen Weg Großbritannien bei einem Austritt einschlagen würde, ist freilich noch offen. Denkbar sind drei Varianten, wie das Land seine künftigen Wirtschaftsbeziehungen mit der Union regeln könnte – nämlich
— ein „sanfter“ Ausstieg, der Großbritannien einen ähnlichen Status wie Norwegen und der Schweiz sichern würde – also ein Handelsabkommen mit der EU, keine Zölle, aber durchaus nicht-tarifäre Handelshemmnisse durch allerlei Vorschriften, die letztlich den britischen Unternehmen zusätzliche Kosten aufbürden würden;
— ein Szenario ohne Handelsabkommen mit Brüssel – was die Wiedereinführung von Zöllen bedeutet und damit teurere Waren:
— der Supergau schlechthin wäre es, wenn das Königreich im ungünstigsten Fall alle Privilegien verlöre, also zum Beispiel jene, die sich aus den 38 bestehenden Handelsabkommen Brüssels mit anderen Staaten ableiten lassen.
Gesetzt den Fall, die Briten würden – so wie Norwegen – Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden, ergäbe sich folgendes: Sie müssten weiterhin gut 80 Prozent der von Brüssel vorgeschriebenen Binnenmarktvorschriften einhalten, kämen zwar um Zölle herum, hätten aber bei der Einfuhr Verbrauchssteuern zu berappen. Die Kostenersparnis würde in diesem Fall, hat die Denkfabrik Open Europe errechnet, lediglich 1,9 Milliarden Pfund oder sechs Prozent im Jahr ausmachen. Falls das Königreich nach der etwaigen Abspaltung jedoch dem Schweizer Modell den Vorzug gäbe – sprich: bilaterale Verträge mit der EU – käme alles noch teurer, obendrein hat die Schweiz keine Abkommen mit der Union bezüglich Dienstleistungen, was für Großbritannien freilich ein Muss wäre.
Die Annahme, dass sich das Land Unsumme erspart würde, sobald es nicht mehr in den EU-Haushalt einzahlen müsste, ist folglich ziemlich naiv. Für die derzeitigen Brexit-Befürworter würden sich die derzeitigen Träume auch aus anderen Gründen alsbald in Alpträume verwandeln: Der erhoffte Schutz der eigenen Grenzen wird kaum dem Ziel dienen, Migranten fern zu halten: Während deren Anteil an der britischen Bevölkerung zur Zeit vier Prozent beträgt, ist er in den Nicht-EU-Staaten Norwegen und der Schweiz weitaus höher – nämlich acht bzw. 15 Prozent. Ähnlich enttäuschend dürfte auch der Wunsch enden, die Gesetze wieder im Lande beschließen zu lassen: Das Königreich zählt laut OECD schon jetzt zu den Industrieländern mit der geringsten Regulierungsdichte – diese bei einem Alleingang weiter zu reduzieren wird kaum möglich sein. Schließlich würde sich das Land mit der Intention der Brexit-Anhänger, globale Handelsabkommen selbst abzuschließen, eine Menge Troubles einhandeln.
Falls es tatsächlich austritt, müsste es gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags sämtliche Vereinbarungen binnen einer Übergangsfrist von zwei Jahren neu aushandeln – was angesichts der thematischen Fülle so gut wie unrealistisch ist. Grönland etwa hat nach seinem Exodus mit der EU drei Jahre um einen neuen Vertrag feilschen müssen, obwohl es dabei nur um das Thema Fischfang ging. Der Austritt Großbritanniens wäre somit erst 2019 offiziell; danach müssten sich die Briten auf einen politisch-diplomatischen Marathon der Sonderklasse einstellen, um ihre Handels- und sonstigen Beziehungen zur EU, aber auch zum Rest der Welt neu zu definieren. Und all das zu neu aufzustellen, was durch das Außerkrafttreten der EU-Spielregeln offen wäre. Dieser Prozess könnte, wie Experten ebenso befürchten wie der britische Europaminister David Lidington, mindestens ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen.
In diesem Zeitraum würden beispielsweise die britischen Landwirte, deren Einkommen derzeit zu 50 Prozent aus EU-Subventionen stammt, ums Überleben ringen beziehungsweise reihenweise dicht machen müssen, falls sie vom Staat nicht eine vehemente Unterstützung bekämen. Zugleich würden die europafreundlichen Schotten darauf drängen, erneut über ihre Unabhängigkeit abstimmen zu dürfen – was in politischer Hinsicht zu einer Schwächung Großbritanniens, womöglich sogar zum Auseinanderbrechen führen könnte.
Das heißt also: Wer am 23. Juni mit NO votiert, wählt automatisch das totale Chaos und wird die negativen Folgen seiner Entscheidung am eigenen Leib zu spüren bekommen. Man kann nur inständig hoffen, dass sich bei der Mehrheit der Briten die Vernunft durchsetzen wird – sonst wäre nicht nur in Großbritannien bald Feuer am Dach…
PS: Die Nachteile, die der EU bei einem Brexit drohen könnten, wurden in diesen Ausführungen nicht angesprochen – aus gutem Grund: Bekanntlich soll man, wie es so schön heißt, erst schreien, wenn der Schmerz da ist…