Öffentliche Auftritte bergen mitunter ein Risiko. Das musste auch Kurz bei einer religiösen Massenveranstaltung erfahren
Wir haben derzeit in Europa ein interessantes durch Meinungsumfragen belegtes Phänomen. Die Menschen haben Sehnsucht nach Religion, ziehen sich aber aus den traditionellen Kirchen eher zurück. In einer jüngsten IMAS-Studie zeigt sich zum Beispiel. 80 Prozent der österreichischen Bevölkerung wollen, dass Österreich ein christliches Land bleibt. 67 Prozent glauben an Gott aber nur 7 Prozent nützen das Angebot der Kirche, beginnend mit dem Besuch von Gottesdiensten. Das was hier für Österreich geschildert wird, gilt fast deckungsgleich für die meisten EU-Staaten.
Warum Schönborn und Kurz nicht absagten
Gleichzeitig dazu gibt es einen Zulauf zu so genannten Freikirchen, das sind Glaubensgemeinschaften, die sich am Evangelium orientieren, aber ein anderes Ritual und gemeinschaftliche, durchaus öffentliche Auftritte pflegen. Übrigens handelt es sich bei den Freikirchen um eine in Österreich seit 2013 anerkannte Religionsgemeinschaft. Eine solche Großveranstaltung fand nun zum letzten Wochenende in der Wiener Stadthallte statt. Bei „Awakening Europe“ handelt es sich um eine aus mehreren Freikirchen heraus entstandene Reihe von Veranstaltungen, die alle christlichen Konfessionen umfasst und wie der Name sagt, quer durch Europa zieht. Ziel ist – wie es offiziell heißt – die Stärkung der Einheit der Christen im jeweiligen Land und etwas schwulstig formuliert die „Übermittlung der rettenden Liebe und Kraft Gottes zu den Menschen“.
Schon im Februar, so heißt es aus der Erzdiözese, wurde von den Veranstaltern sowohl bei Bundeskanzler Sebastian Kurz als auch bei Kardinal Schönborn um ein Statement angefragt. Die Büros des Kardinals und des damaligen Bundeskanzlers stimmten sich ab und sagten zu. Schönborn war es am Dialog mit Christen generell gelegen und Kurz sah keinen Grund, dieser doch beachtlichen Veranstaltung keinen Besuch abzustatten. Umso mehr, da er immer wieder auch Veranstaltungen aller religiöser Gruppen besucht, wenn er zu einem Dialog eingeladen wird. Er sagte daher „Awake Europe“ nicht ab, obwohl er derzeit kein Bundeskanzler ist. Er wollte eine einmal gegebene Zusage nicht ausschlagen. Und nicht zuletzt ist er selbst bekennender Katholik.
Als öffentliches Gebet durchaus selbstverständlich war
Beim Grußwort von Kurz an gut 10.000 Menschen in der Stadthalle geschah es dann. Schon während der Veranstaltung wurde mehrmals für die Verantwortlichen Österreichs, also auch für alle Politiker gebetet. Das Gebet für Kurz „Gott wir danken dir so sehr für diesen Mann“ sei eine spontane Idee eines der Prediger und mit dem Altkanzler nicht abgesprochen gewesen, hieß es nachher. Was man übrigens auch im Fernsehen mitverfolgen konnte, weil man Kurz ansah, dass er sich in diesem Auenblick nicht wirklich wohl in seiner Haut fühlte, fast linkisch wirkte. Nicht ganz unverständlich, weil die Wortwahl dieses Predigers auch für heimische praktizierende Katholiken nicht üblich, aber offenbar typisch für diese Glaubensgemeinschaften (und deren Anziehungskraft) ist.
Der Ausschnitt in der ZiB löste dann einen richtigen Shitstorm in den Social Media aus und auch in einigen Zeitungen verstanden so manche Kommentatoren die Welt des Sebastian Kurz nicht mehr. Übersehen wird dabei, dass früher einmal das Gebet etwas durchaus Öffentliches war. In der Familie vor dem Abendbrot. In der Schule vor Beginn des Unterrichts. Und auch hin und wieder in der Öffentlichkeit, meist in Krisensituationen, wenn man um die Hilfe Gottes in höchster Not bat. Ist alles nur in Vergessenheit geraten. Erst vor kurzem fand übrigens ganz offiziell im Parlament ein so genanntes Gebetsfrühstück statt, an dem Parlamentarier alles Fraktionen teilnahmen. Dieses ging freilich an der Öffentlichkeit unbemerkt vorüber. Und man suchte auch nicht, wie „Awake Europe“ bewusst die Publizität.