Dienstag, 3. Dezember 2024
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Warum die Kammern jammern müssen

Österreichische Kammern und Interessensvertretungen in der Debatte. Illustration: © PD, Montage: EUI.

Zehn Befunde aus unterschiedlichen Perspektiven zur Sozialpartnerschaft made in Austria.

1. Unbestritten ist: Die Sozialpartnerschaft ist ein österreichisches Phänomen, dem die Republik viel zu verdanken hat. In der Nachkriegszeit trug die institutionalisierte Kooperationsbereitschaft zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden wesentlich zum raschen Aufschwung des Landes bei. Die Lust am Reglementieren – beispielsweise von Preisen und Löhnen – ersparte den Österreichern jedenfalls nennenswerte soziale Spannungen, was etwa in Form einer weltmeisterlich niedrigen Streikquote messbar geworden ist.

2. Eindeutig erwiesen ist weiters, dass der Aktionsradius von Wirtschafts- und Landwirtschaftskammern auf der einen Seite sowie Arbeiterkammer und Österreichischem Gewerkschaftsbund auf der anderen Seite in den Sechziger- und Siebzigerjahren ständig ausgeweitet wurde. Im gesamten Wirtschafts- und Sozialbereich ging nichts mehr ohne die vier Interessenvertretungen, die mit der Zeit immer häufiger und negativ besetzt als „Nebenregierung“ bezeichnet wurden.

Zur Erinnerung: Der absolute Höhepunkt für die Sozialpartner, die innerhalb und außerhalb des Parlaments überall mitzumischen und dabei wichtige Posten zu sammeln pflegten, war mit zwei Namen verbunden: ÖGB-Boss Anton Benya, 24 Jahre lang oberster Gewerkschafter, amtierte von 1971 bis 1986 auch als Präsident im Hohen Haus; sein Pendant, Wirtschaftskammer-Präsident Rudolf Sallinger, war 24 Jahre lang, von 1966 bis 1990, ÖVP-Abgeordneter, Obmann des Wirtschaftsbundes und zeitweise auch stellvertretender Bundesparteiobmann der Volkspartei.

3. Damit nicht genug: Im Hohen Haus waren stets hochrangige, aber auch relativ unbekannte Repräsentanten der Sozialpartner in großer Anzahl (beinahe rudelartig) präsent, womit die Arbeitnehmer ebenso überrepräsentiert waren wie die Wirtschaft und die Landwirte. Auch in der Bundesregierung durften zahllose Gewerkschafter und Kämmerer als Minister tätig sein, darunter – um nur einige zu nennen – Karl Sekanina (Bauten), Alfred Dallinger, Josef Hesoun und Rudolf Hundstorfer (alle: Soziales) bzw. die Arbeiterkämmerer Josef Staribacher (Handel) und Ferdinand Lacina (Finanzen). Von der anderen Seite wären u.a. die Wirtschaftskämmerer Reinhold Mitterlehner (Wirtschaftsressort), der es später bekanntlich zum Vizekanzler brachte, oder Hans Jörg Schelling (Finanzen) zu nennen.

4. Nicht zu übersehen war freilich, dass die Kritik an den Sozialpartnern schon relativ früh nicht zu überhören war: Es wurde ihnen angekreidet – in der Regel naturgemäß von nicht involvierter Seite wie Kommunisten, später Grünen und Freiheitlichen -, dass sie, ähnlich wie die seinerzeitigen Großparteien ÖVP und SPÖ, für das unselige Proporzsystem verantwortlich wären. Man warf ihnen gerne Intransparenz vor, weil die Verhandlungen hinter Polstertüren bisweilen an einen „Kuhhandel“ erinnerten, bei dem teils undemokratisch gewählte Funktionäre von beiden Seiten jegliche Konfrontation ausschalten und letztlich sogar jegliche Diskussion im Parlament verhindern, respektive zu einem konfliktlosen Pro-forma-Akt degradieren würden. Der grundsätzlich angestrebte Konsens zwischen den beiden unterschiedlichen Lagern wurde somit als undemokratische „Packelei“ abgetan

5. Die Sozialpartner haben naturgemäß auch innerhalb ihrer jeweiligen Partei beträchtlichen Einfluss ausgeübt, sodass etwa bei den Sozialdemokraten nichts mehr ohne Gewerkschaft und bei der Volkspartei nicht mehr ohne Wirtschaftskammer – sprich: Wirtschaftsbund – ging, was zum einen immer wieder Machtspielchen nach sich zog und zum anderen die Regierungsarbeit immens erschwerte. Insbesondere die Herren Faymann, Pröll, Spindelegger und Mitterlehner lernten das Gefühl ziemlich genau kennen, was passiert, wenn man von der Gewerkschaft oder von der Wiedner Hauptstraße 63, dem Sitz von Christoph Leitl, unentwegt in den Schwitzkasten genommen wird: Da  passiert herzlich wenig…

6. Auf diese Weise wurden jedenfalls etliche dringend nötigen Reformen, die von so mancher Bundesregierung zu erwarten gewesen waren, auf Grund des sozialpartnerschaftlichen Widerstands verhindert. Zugleich war die Bereitschaft, in den eigenen Reihen für frischen Wind zu sorgen, weitestgehend unterentwickelt, sodass es lediglich zu eher halbherzigen Kosmetikaktionen gekommen ist, nicht jedoch zu nennenswerten Strukturveränderungen. Dieses Manko ist mit der Zeit den eigenen Mitgliedern unangenehm aufgefallen, die letztlich mit ihren finanziellen Beiträgen eine immer aufwändigere Existenz der vier Institutionen absichern mussten. Die Frage, ob heutzutage jeder Arbeitgeber automatisch in die WKO einzahlen bzw. jeder Arbeitnehmer für die Arbeiterkammer sein Scherflein leisten sollte, wuchs sich zu einer jahrelangen Debatte aus, die noch längst nicht abgeschlossen sein wird.

7. Das Thema „Pflichtmitgliedschaft“ wurde zwar unablässig diskutiert, von den Betroffenen freilich mit Rückendeckung von SPÖ und ÖVP immer elegant ignoriert. Jene unzähligen Dienstnehmer, die in ihrem Leben niemals eine Rechtsauskunft der Arbeiterkammer gebraucht und jene vielen Unternehmer, die niemals auf das wirtschaftskämmerliche Dienstleistungsangebot zurückgegriffen haben, dürfen nunmehr allerdings hoffen – ein bisschen zumindest. Denn in einer türkis/blauen Regierungskonstellation könnte, wie von FPÖ und ÖVP bereits angekündigt, einiges in Bewegung kommen. Doch Gemach: Zu einer Zertrümmerung der Sozialpartnerschaft, wie sie den FPÖ-Häuptlingen vorschwebt, wird es nicht kommen – und das ist gut so. Dieses Instrumentarium muss dem Land prinzipiell erhalten bleiben, doch die vier Player sollten endlich die gloriose Vergangenheit abwerfen müssen und einer massiven Verjüngungskur unterzogen werden. Anders formuliert: Ein Platz in der ersten Reihe fußfrei wird ihnen künftig wohl nicht so ohne weiteres zustehen.

8. So, wie sich bei der Regierung eine Zäsur ankündigt, bahnt sich auch bei den Sozialpartnern eine große Wende an, zumindest in personeller Hinsicht: Dem 31-jährigen Neo-Kanzler Sebastian Kurz und seinem blauen Vize, HC Strache, stehen künftig auf Seite der Sozialpartner möglicherweise bis zu vier neue Präsidenten gegenüber: WKO-Chef Leitl wird durch Kurz-Intimus Harald Mahrer ersetzt, AK-Boss Rudolf Kaske wiederum wird sich im April 2018 ins Privatleben zurückziehen und einem Nachfolger Platz machen. Hermann Schultes von der Landwirtschaftskammer Österreich indes müsste ebenfalls überlegen, ob mit 64 nicht bald Schluss sein sollte und auch ÖGB-Präsident Erich Foglar könnte im kommenden Jahr die Chance nutzen, sich mit 63 in den wohlverdienten Ruhestand zurückzuziehen. Zumindest ist erfreulicherweise geklärt, dass kein Sozialpartner-Präsident mehr im Hohen Haus sitzen wird, weil Schultes dort nach 17 Jahren kein Ticket mehr bekam.

9. Die Vermutung liegt nahe, dass sich die kommende Regierung von den Sozialpartnern weniger dreinreden lassen will als bisher – und sich folglich bei heiklen Materien auch nicht bremsen lassen möchte. Das hört man zwar gerne, doch ist dabei nicht außer Acht zu lassen, dass Sebastian Kurz mit beträchtlichem internen Widerstand seines Wirtschaftsbundes zu rechnen hätte, falls er der Wirtschaftskammer zu nahe träte. Er wird folglich rasch trachten, seinen Spezi Harald Mahrer zu hausgemachten Reformen zu drängen, die im Best Case reduzierte Kammerumlagen für Mitglieder bedeuten könnten. Im Gegenzug würde die WKO für diverse Dienstleistungen, die etwa von ihren Außenstellen im Ausland erbracht und mehrheitlich zweifellos geschätzt werden, einen entsprechenden Obolus verlangen können. Schwieriger wird es für die Arbeiterkammer, die ebenfalls Unsummen an Mitgliedsbeiträgen hortet, um im Gegenzug die Interessen von Arbeitnehmern im Konfliktfall, zum Beispiel vor dem Arbeitsgericht, wahrzunehmen –  doch auch bei der AK, die keinen roten Beschützer mehr in der Regierung hat, wird sich etwas bewegen müssen.

10. Es spricht überhaupt nichts dagegen, dass es in diesem Land starke Interessenvertretungen gibt. Dass diese mit dem Geld ihrer Mitglieder freilich ein opulentes Eigenleben führen, mit dem Ziel, ihre Macht und ihren Einflussbereich noch mehr auszuweiten, mag nicht nur die neue Regierung nicht einsehen, sondern auch vielen Bürgerinnen und Bürgern geht das gegen den Strich. Die Kammern dürfen also mit Fug und Recht jammern, dass die Zeiten für sie härter werden. Es bleibt zu hoffen, dass die neuen sozialpartnerschaftlichen Spitzenleute genügend Fingerspitzengefühl mitbringen, um für Neues, für Umdenken, für Reformen offen zu sein. So etwa könnte eine Mitgliederbefragung über die Pflichtmitgliedschaft endgültig Klarheit schaffen, wie der Hase für WKO, AK und LWK laufen soll. Als einziger darf der ÖGB relativ entspannt bleiben, weil seine Mitglieder auf freiwilliger Basis einzahlen. Was wiederum einmal die Frage aufwirft, warum es immer noch gleich zwei Vertretungen für Arbeitnehmer gibt, die im Prinzip das Gleiche tun?

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