In einem Punkt – gemeint ist die EU – hat Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn Recht, wenn er meint: „Wir eiern seit Jahren herum“. Er bezog dies zwar auf die Flüchtlingspolitik, dieser Vorwurf gilt aber noch mehr für die Türkei.
Typisch dafür war das dieswöchige Treffen von EU-Außenbeauftragter Federica Mogherini und EU-Kommissar Johannes Hahn mit einer türkischen Delegation unter Führung von Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu und Europaminister Ömer Celik in Brüssel. Offiziell ging es bei diesem Treffen um die noch immer laufenden EU-Beitrittsverhandlungen und damit die Bereiche Energie, Wirtschaft und Handel. Nach all dem, was sich im Vorfeld abspielte, erwartete man eine harte und vor allem klare Aussprache. So hatte der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel angesichts des Prozessbeginns gegen 17 Journalisten der regierungskritischen Tageszeitung „Cumhuriyet“ für eine härtere Gangart gegenüber der Türkei plädiert. Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, sah in Verhandlungen mit Ankara überhaupt keinen Sinn mehr. Mittlerweile ist sogar Bundeskanzler Christian Kern auf die Linie des österreichischen Außenminister Sebastian Kurz eingeschwenkt und erklärt, dass die EU einen Beitritt der Türkei „nie im Leben verkraften könne“.
Neue Verhandlungen statt Stopp der Gespräche
Vor dem EU-Türkei-Gipfel verlangte Kommissar Johannes Hahn, dass Ankara endlich „konkrete Taten setzen muss“, gefragt seien „Grundsatzentscheidungen und keine Absichtserklärungen.“ Nach dem Treffen blieb es in der Pressekonferenz recht still. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini forderte zwar wie schon üblich die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards, betonte aber gleichzeitig, die Türkei sei und bleibe „ein Kandidatenland“ für den EU-Beitritt. Ungeachtet der Spannungen kündigten beide Seiten auch noch an, weiter im Gespräch bleiben zu wollen. So wurden bereits weitere Spitzentreffen zu Themen wie Energie (September, Transport (November) und Wirtschaft (Dezember) vereinbart. Ja die beiden türkischen Politiker Cavusoglu und Celik, klopften auch noch auf den Tisch und forderten von der EU Fortschritte bei der Visaliberalisierung und den EU-Beitrittsverhandlungen.
Säuseln zeigt Schwäche der EU
„Mit Säuseln werden wir in den Gesprächen mit der Türkei nicht weiterkommen“, heißt es dazu nicht nur aus der Umgebung von Kurz sondern auch aus der bayerischen Staatskanzlei, die sich einen wesentlich schärferen Kurs wünscht. Sowohl in der Türkei-Frage, als auch übrigens was die Schließung der Mittelmeerroute betrifft. Und man verweist auch darauf, dass etwa Angela Merkel schon vor Jahren verlangt hatte, anstelle eines Voll-Beitritts der Türkei nur eine „privilegierte Partnerschaft“ anzubieten. Man hat es nur verabsäumt, sich konkret Gedanken zu machen, wie diese aussehen soll. Wie so oft in der EU gibt es aber auch in der Türkei-Problematik unterschiedliche Interessenslagen zwischen den Ländern und daher kein geschlossenes Agieren, sondern nur ein Lavieren zwischen den verschiedenen Positionen.
ETI als Alternative zu einem EU-Beitritt
Im Außenministerium in Wien, das eine besonders kritische Haltung zum türkischen Beitrittsansinnen einnimmt, werden schon seit längerem Überlegungen gewälzt, wie eine Alternative zu einem Beitritt aussehen sollte. Schließlich weiß man bei aller notwendigen Kritik, dass das Land am Bosporus eine wichtige Brückenfunktion zwischen Europa, dem Nahen Osten und der islamischen Welt spielt. Und man sich auch bewusst, dass angesichts der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung des Landes (Österreich war von 2002 bis 2015 der zweitgrößte Auslandsinvestor) Alternativen zu einem Beitritt letzten Endes notwendig sind. Und es gibt dazu auch schon ein Papier, in dem eine maßgeschneiderte „Europäisch-Türkische Interessensunion“ (ETI) als Kooperationsmodell vorgeschlagen.
Eine neue Form der Kooperation
Aus dieser Unterlage ist sehr klar zu entnehmen, dass für die Türkei zum Beispiel ein Beitritt zum EWR also dem Europäischen Wirtschaftsraum als Alternative zur EU keinen Sinn macht, da bereits eine Zollunion zwischen der EU und dem Land am Bosporus besteht. Denkbar wäre es freilich, die 1996 vereinbarte Zollunion EU-Türkei und das der Zollunion zugrundeliegende Assoziierungsabkommen EWG–Türkei aus 1963 (Ankara-Abkommen) als Grundlage für eine Alternative heranzuziehen. Konkret gehen die Vorschläge für eine Europäisch-Türkische Interessensunion dahin, das Assoziierungsabkommen zu aktualisieren, durch einen politischen Teil, einem Ausbau der Zollunion und der Definition weiterer Kooperationsbereiche zu ergänzen. Dazu käme, dass die ETI Organe analog zu jenen des EWR haben würde: Gemeinsamer Ausschuss, EU-Türkei-Rat, gemeinsamer parlamentarischer Ausschuss. Zudem wären formelle Konsultationen bei Gesetzesvorhaben der EU in bestimmten Bereichen vorzusehen.
Türkisches Faustpfand Sicherheitspolitik
Die Bedeutung der Türkei in punkto Sicherheitspolitik fällt besonders ins Gewicht und wird von Ankara fast rücksichtslos ausgespielt. Dies spiegelt sich auch in der knieweichen Erklärung Mogherinis wider. Das betrifft nicht nur den Flüchtlingsdeal, der freilich erst nach der Schließung der Balkanroute zustande kam, sondern gilt insbesondere auch für den Ausbau der Kooperation im Bereich Justiz und Inneres, einschließlich der Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung auf Basis von Europarats-Konventionen. Hinzu kommt die vertiefte Einbindung in Konfliktlösungsbemühungen im europäischen Interesse (z.B. Ukraine). Ankara weiß allerdings auch um die Wichtigkeit dieser Agenden für Europa und übt daher auch bei den Beitrittsgesprächen Druck auf Brüssel aus. Was wiederum zur Folge hat, dass Brüssel fast allergisch reagiert, wenn ein Verhandlungsabbruch gefordert wird.
Verhandlungen mit der Schweiz als Vorbild
Interessant ist eine Schlussbemerkung in dem Türkei-Strategiepapier. So wird dort noch festgehalten, dass die Türkei unter den Nicht-EU-Staaten zwar einen Sonderfall im europäischen Integrationsprozess darstellt, aber nicht der einzige ist. So findet derzeit eine Neuordnung des Verhältnisses mehrerer Staaten zur EU statt: Einerseits mit Großbritannien infolge des Brexit, andererseits mit der Schweiz. In beiden Fällen ist die Frage der Freizügigkeit und ihrer Beschränkung besonders sensibel. Gerade die Verhandlungen mit der Schweiz könnten einen Präzedenzfall für eine maßgeschneiderte Lösung schaffen.