Nicht nur in Europa ticken die politischen und gesellschaftlichen Uhren anders. Und das hängt mit einem Pendelschlag zusammen, der in die entgegengesetzte Richtung jener Entwicklung ausschlägt, die uns das 1968er Jahr gebracht hat.
Bei der EU in Brüssel, aber auch in so manchen Staatskanzleien und Parteizentralen quer durch Europa blickt man mit Sorge den nächstjährigen EU-Parlamentswahlen entgegen. Der Grund ist, dass man aufgrund des allseits spürbaren Stimmungswandels mit tiefgreifenden Veränderungen in der Parteienlandschaft rechnet. Und diese stehen durchaus nicht unmittelbar in Zusammenhang mit den üblichen Schwankungen, die nun einmal Parteien in Bezug auf die Wählergunst erleben. Wir haben es mit einer „Zeitenwende“ zu tun, wie es etwa der Politikwissenschaftler Fritz Plasser formuliert.
STATUS QUO
Abgesehen von der mageren Wahlbeteiligung haben wir es schon seit langem mit einem relativ ausbalancierten Kräfteverhältnis im EU-Parlament zu tun, das sich in weiterer Folge auch auf die Besetzung der EU-Kommission auswirkt. Schwarz und Rot, also die Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten, bilden gewissermaßen eine Koalition und verfügen über eine absolute Mehrheit. Daneben spielen noch die Konservativen (dabei handelt es sich vor allem über die Briten), die Liberalen, die Grünen und die diversen am rechten Flügel angesiedelten Parteien (wie etwa die FPÖ, die italienische Lega und die französische Le-Pen-Bewegung) eine gewisse Rolle. Wirklich mitbestimmen können sie nicht.
KRÄFTEVERHÄLTNISSE IM WANDEL
An dieser Stimmenaufteilung zwischen den verschiedenen Lagern könnte sich nächstes Jahr nach den EU-Wahlen im Mai vieles ändern. Und das hängt mit dem gesellschaftlichen und politischen Trend zusammen, der in vielen europäischen Staaten sichtbar geworden ist. Die Nummer 1 bleiben wird die EVP (sie liegt mehr oder weniger im Trend der Zeit). Unsicher ist, ob die Sozialdemokraten ihren zweiten Platz behalten werden können. Sie stecken seit längerem unter anderem in einer ideologischen Krise, versuchen sich neu zu orientieren, was nur zu Richtungsstreitigkeiten führt. Aktuell rechnet man jedenfalls damit, dass die rote Bastion von den so genannten „populistischen Parteien“ streitig gemacht werden dürfte. Während die Grünen mit Einbußen rechnen, erhofft sich das liberale Lager eine Stärkung. Diese hängt aber ausschließlich davon ab, dass sich die französische Bewegung von Emmanuel Macron den Liberalen anschließt.
SINNESWANDEL DER GESELLSCHAFT
Summa summarum haben wir eine Entwicklung, die sich so beschreiben lässt: Der linke Flügel erlahmt, der rechte Flügel bekommt Zuwachs. Das heißt, wir erleben eine Verschiebung der Mehrheit von Mitte-Links nach Mitte-Rechts. Symptomatisch die Situation in Österreich. Von 1983 bis 2017 gab es zwar eine bürgerliche aber mit 50 Prozent nur schwach abgesicherte Mehrheit. Mittlerweile beträgt diese gut 60 Prozent. Diese Entwicklung ist in Europa zu verfolgen, sie hängt – und das ist der entscheidende Punkt – mit dem Sinneswandel innerhalb der Gesellschaft zusammen.
ES BEGAB SICH BEREITS 2015
Für die Politikwissenschaftler hat die Trendwende bereits 2015 eingesetzt, damit dass geradezu ein Flüchtlings-Tsunami über Europa hereingeschwappt ist. Die Reaktion vieler Handlungsträger, zu glauben mit einer Politik der offenen Tür (Stichwort „Willkommenspolitik“) der Situation Herr werden zu können, erwies sich letztlich als verfehlt und trügerisch. Parallel mit dem Flüchtlings-Tsunami baute sich nämlich eine Bürger-Abwehrfront auf, die einen Abschied von Illusionen und Träumen verlangte. Und angesichts der Konfrontation mit Menschen aus anderen Kulturkreisen sowie einem anderen Religionsverständnis ihr Heil sehr wohl in der Schaffung einer so genannten „Festung Europa“ sah.
1968 WAR EINE KULTURREVOLUTION
Genau genommen wurde damit das Ende einer Entwicklung eingeleitet, die von den Ereignissen des Jahres 1968 in Westeuropa gekennzeichnet war. Was damals geschah, war eine Kulturrevolution, begleitet von einem Anstieg des Neomarxismus, vor allem von Angriffen gegen Autorität, Ordnung und Traditionen, dem Glauben an die heilbringende Kraft des Ökologismus, dem Aufstieg der Ideologie des Multikulturalismus sowie nicht zuletzt von Attacken gegen das Christentum und sein Wertegerüst. Schlussendlich hatten wir es mit einem liberalen Ordnungsmodell ohne konservativen Grundlagen zu tun.
DER NEUE MAIN-STREAM
Genau dagegen richtet sich nun der Main-Stream in der öffentlichen Meinung. Es ist dies der Abschied von dem so hochgepriesenen Gesellschaftsmodell „1968“ und eine Hinwendung zu einer europäischen Gesellschaft, die sich ihrer Entstehungsgeschichte und dem Charakter des Kontinents bewusst wird, sich gegen einen aufgezwungen Wandel und eine verordnete Unterwanderung der gewachsenen Strukturen zur Wehr setzt. Kurzum, wir haben es mit einer Zeitenwende zu tun. Die Linken und Grünen werden von dieser Entwicklung bereits erfasst. Auch so manche christ-demokratische und konservative Parteien und deren Repräsentanten, werden sich dem Wandel nicht widersetzen können, wollen sie bestimmende Kraft bleiben oder am Wegrand der Geschichte stehen bleiben.