Mittwoch, 6. November 2024
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Zugbrücke hoch!

Es kracht zwischen Großbritannien und der EU-Kommission wegen David Camerons kontroverser Initiative zur Einschränkung des Rechts auf Freizügigkeit. In seiner Heimat stößt der Premier damit jedoch auf breite Zustimmung. Lachender Dritter ist  der Chef der europakritischen UK Independence Party.

[[image1]]Premierminister David Cameron ließ sich nicht beirren. Ungeachtet aller Kritik, die ihm aus Brüssel entgegen schlägt,  hält er an seinen kontroversen Vorschlägen zur Kürzung der Sozialleistungen für Ausländer aus der restlichen EU fest. Laut und klar sei seine Botschaft, betonte der Regierungschef: Großbritannien werde bei der Einwanderungspolitik und im Hinblick auf den viel kritisierten Sozialtourismus Härte zeigen und notfalls im Alleingang Reformen durchziehen. „Es geht hier um Fairness gegenüber meinen hart arbeitenden Landsleuten. Die Briten erwarten diese Fairness“, betonte er. Die öffentliche Meinung und alle großen Parteien im Inselreich hat er damit auf seiner Seite. Deshalb kommt Cameron der Krach mit der EU auch gerade recht.

Die Kritik von EU-Sozialkommissar Laszlo Andor, der ihm in einem Interview „Hysterie“ vorwarf, lässt den Briten kalt. Das gilt auch für den Einwand von Justizkommissarin Viviane Reding, die Freizügigkeit für Arbeitnehmer sei eine fundamentale Säule des EU-Binnenmarktes und daher „nicht verhandelbar“. Wenn Großbritannien Teil des Binnenmarktes bleiben wolle, müsse es auch die Regeln zur Bewegungsfreiheit aller Bürger einhalten, so Reding. EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso rief Cameron sogar persönlich an, um ihn daran zu erinnern, dass es hier um ein EU-Prinzip gehe, das aufrechterhalten werden müsse. Doch Cameron kontert: „Es ist Zeit für ein neues Übereinkommen, das die Tatsache anerkennt, dass Freizügigkeit ein zentrales Prinzip der EU ist, aber dass es nicht ein bedingungsloses sein kann“. Seine Initiative ist damit Teil des  von ihm Anfang des Jahres angekündigten Projektes, das Verhältnis von Großbritannien zur EU neu zu definieren.

Harte Maßnahmen

In einem Namensartikel für die Financial Times hatte Cameron am Mittwoch aufgelistet, was er alles ändern will, zum Teil schon ab dem 1. Januar. So sollen Neuankömmlinge aus anderen EU-Staaten in den ersten drei Monaten keine Sozialleistungen wie Wohngeld mehr in Anspruch nehmen können, wenn sie keinen Arbeitsplatz haben. (Dafür bedarf es allerdings einer Gesetzesänderung, die kaum in den nächsten 35 Tagen unter Dach und Fach sein dürfte). Des weiteren sollen EU-Ausländer künftig maximal sechs Monate lang Arbeitslosenunterstützung erhalten. Danach müssen sie nachweisen können, dass sie eine realistische Aussicht auf einen Job haben. Wer keinen britischen Pass besitzt und obdachlos ist oder beim Betteln auf der Straße erwischt wird, soll unverzüglich in sein Heimatland deportiert werden und darf danach ein Jahr lang nicht mehr nach Großbritannien einreisen. Einwanderer aus der EU werden zudem nur dann Sozialhilfe beantragen können, wenn sie nachweisen können, dass ihr voraussichtliches Minimaleinkommen in Großbritannien einen bestimmten Minimalwert übersteigen wird. Kindergeld soll nicht mehr an ausgezahlt werden, wenn die Nachkommen außerhalb Großbritanniens leben. Auch die britischen Arbeitgeber werden bluten müssen: wer EU-Ausländer zu Dumpinglöhnen beschäftige und ihnen weniger zahlt als den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn muss mit Strafen von bis zu 20.000 Pfund pro Arbeitnehmer rechnen – viermal so viel wie heute.

Mittelfristig will Cameron bei seinen übrigen EU-Kollegen ferner dafür eintreten, die Freizügigkeit für Touristen und arbeitsuchenden Bürgern aus künftigen Mitgliedsländern mit schwacher Wirtschaftsleistung so lange einzuschränken, bis ihre Konjunkturentwicklung dem EU-Durchschnitt entspricht. Zur Umsetzung seiner Pläne hofft er auf Unterstützung von Österreich, Deutschland und den Niederlanden, die eine ähnliche Auffassung vertreten, so Cameron. „Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass die völlige Bewegungsfreiheit zum Auslöser von Wanderwellen geworden ist, die durch riesige Ungleichgewichte bei den Einkommen verursacht sind“ so Cameron.

Spannungen nehmen zu

Camerons Vorschläge kommen nicht von ungefähr. Denn in Großbritannien wächst die Sorge, dass mit dem Wegfallen der Arbeitsbeschränkungen für Bulgaren und Rumänen Anfang Januar eine Flut von Neuankömmlingen aus Osteuropa über das Vereinigte Königreich schwappen wird. Das hat die Debatte um die negativen Konsequenzen der offenen Grenze in Europa weiter angefacht. Die Lobby-Gruppe MigrationWatch UK erwartet, dass in den nächsten fünf Jahren jedes Jahr 50.000 Bulgaren und Rumänen ins Vereinigte Königreich ziehen werden, der bulgarische Botschafter in London allerdings geht nur von 8000 Zuwanderern im Jahr aus. Derzeit leben rund 141.000 Rumänen und Bulgaren im Vereinigten Königreich.

Im Gegensatz zu den meisten anderen EU-Staaten hatten Großbritannien, Schweden und Irland bei der Osterweiterung im Jahr 2004 keine Übergangsfristen für die Freizügigkeit von Arbeitskräften aus den neuen Mitgliedsländern beschlossen und damit keine Barrieren für Arbeitnehmer aus diesen Ländern errichtet.  Die damalige Labour-Regierung erntete dafür viel Lob, vor allem die britische Wirtschaft freute sich über den großen Pool arbeitswilliger und zum Teil gut ausgebildeter Osteuropäer, der damit zur Verfügung stand. Auch die Bevölkerung nahm`s gelassen. Doch mit der Finanzkrise und Rezession fand ein Stimmungsumschwung statt – der Unmut über die fremden Arbeitskräfte wuchs.  Vor allem in manchen englischen Kleinstädten ist der Anteil von Ausländern aus Polen, Lettland, Litauen, der Tschechischen Republik und Slowenien nämlich so stark angewachsen, dass die normalerweise sehr toleranten Briten ihr angestammtes Sozialgefüge in Gefahr sehen. Ihnen gefällt es nicht, dass in manchen Schulen Englisch für Zweidrittel der Kinder nicht die Muttersprache ist. In London, das ohnehin eine kosmopolitische Stadt ist, lassen sich die Ausländer besser integrieren als in der englischen Provinz.

Im nordenglischen Sheffield kommt es seit dem Sommer immer wieder erhebliche Spannungen zwischen den alteingesessenen Bewohnern – die zum Teil selbst Migrationshintergrund haben – und den neuzugezogenen Roma.  David Blunkett, ein ehemaliger Labour-Innenminister und heute Abgeordneter für den Wahlbezirk Sheffield Brightside und Hillsborough, warnt immer wieder vor lokalen Auseinandersetzungen, die aus den fremden Lebensgewohnheiten von mehreren tausend Roma resultieren, die ihre Kinder beispielsweise spät abends auf den Strassen herumlungern lassen. Die Bewohner Sheffields beklagen eine Zunahme der Kriminalität, vor allem Einbrüche haben zugenommen. Wenn die Roma ihr Verhalten nicht änderten, könnte es eine „Explosion“ geben, so Blunkett. Zwar zeigen die Statistiken der vergangenen Jahren nicht, dass in Großbritannien ein Zusammenhang zwischen steigenden Sozialausgaben und Einwanderung besteht – im Gegenteil, netto zahlen die Osteuropäer mehr Steuern und Sozialbeiträge ein. Doch darum geht es nicht, Umfragen zeigen nämlich, dass dieses Reizthema auf der Sorgenskala der Wähler weit oben steht.

Innenpolitische Motive

Die Labour-Partei hat nach ihrer Wahlniederlage im Jahr 2010 eine Kehrtwende in Sachen Einwanderungspolitik vollzogen. Im Parlament warf die Schatteninnenministerin der Arbeiterpartei Yvette Cooper Cameron jetzt vor, er habe seine Initiative viel zu spät – nämlich erst 35 Tage vor dem erwarteten Ansturm der Rumänen und Bulgaren – begonnen. Im Frühsommer 2014 wird das nächste Europaparlament gewählt und die europakritische Partei UK Independence Party hofft darauf, in Großbritannien stärkste Partei zu werden. Weil anders als bei den Parlamentswahlen das Verhältniswahlrecht angewandt wird, hat sie gute Chancen. Sie wird mittlerweile auch immer stärker von finanzkräftigen Spendern unterstützt, die bisher für die Tories spendeten. Dieser Trend beunruhigt Cameron. Er wird überdies zunehmend vom rechten Rand seiner Partei unter Druck gesetzt, denn viele Hinterbänkler fürchten, dass ihnen UKIP bei den nächsten Parlamentswahlen im Mai 2015 Stimmen abnehmen wird. UKIP-Chef Nigel Farage fühlt sich jedenfalls durch Camerons Einwanderungs-Initiative nicht bedroht sondern bestätigt, schließlich hat er das Problem, das heute so viele Briten umtreibt, als erster thematisiert. Er warf dem Regierungschef vor, sein Maßnahmenkatalog sei angesichts der geltenden EU-Bestimmungen nahezu wirkungslos und außerdem viel zu zahm. „Die Vorschläge sind viel zu großzügig, denn wer ab dem 1. Januar von Rumänien und Bulgarien nach Großbritannien zieht, kann schon nach nur zwölf Wochen Arbeitslosengeld beziehen“, kritisiert der Politiker.  „Nur der Austritt aus der EU, für den wir eintreten, bringt eine Lösung des Problems“, trumpfte er auf.

Zweierlei Maß

EU-Kommissarin Reding kommentierte Camerons Vorschläge bissig: „Ich verstehe die politische Logik nicht“. Großbritannien sei schließlich immer ein großer Verfechter der EU-Erweiterung gewesen. „Wenn die Erweiterung passiert, sind sie plötzlich nicht mehr glücklich“. Noch heute treten die Briten für die Erweiterung ein, und befürworten zum Beispiel auch eine EU-Mitgliedschaft der Türkei. Doch im Londoner Verständnis geht es bei der Erweiterung der EU inzwischen aber eben vordringlich um den freien Handel.

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